Als am 07. September 2020 der Auftakt zum Prozess gegen Julian Assange war, interessierte ich mich inzwischen bereits so sehr für den Fall, dass ich unbedingt genau wissen wollte, was in diesem Prozess alles besprochen wird. Ich wollte jeden Zeugen hören. Ich wollte wissen, was die Anwälte sagen. Aber ich fand tagelang keine Informationen, bis ich irgendwie auf Dustin Hoffmann stieß, irgendwo in den Tiefen Facebooks in einem Kommentar auf irgendeinen Post.
Der Büroleiter von Martin Sonneborn begleitet das Assange-Verfahren und macht darüber YouTube-Videos
Der junge Mann entpuppte sich als der Büroleiter von Martin Sonneborn, dem populären Satiriker, der Mitglied der Partei DIE PARTEI ist und für ebendiese im EU-Parlament sitzt. Ich mag Martin Sonneborn und war überrascht zu erfahren, dass er seinen Büroleiter direkt nach London als politischen Beobachter zum Prozess geschickt hatte. Jeden Abend nach dem Prozesstag setzte sich Dustin Hoffmann hin und erzählte vor der Kamera, was er vor Gericht alles erfahren und erlebt hatte.
Ich fühlte mich von Herrn Hoffmann sachlich und objektiv informiert. Neutral war er explizit nicht, schon in seinem ersten Video erklärte er, dass dieser Fall sehr wichtig ist für den zukünftigen Umgang mit der Pressefreiheit. Doch er arbeitete bei seiner Berichterstattung nie mit großen Emotionen, sondern erklärte kühl, wer was ausgesagt und wer sich wie verhalten hatte.
Und trotzdem schien es mir, als würde sich Dustin Hoffmann im Laufe der Prozessbeobachtung verändern. Er wurde zunehmend irritierter vom Verhalten der Ankläger, also der US-Anwälte, und des britischen Gerichts. Was er da vor Gericht alles erfuhr und der Öffentlichkeit erzählte, schien nicht nur mich zu entsetzen, sondern auch ihn selbst.
September/ Oktober 2020: Wochen des Stauens und Entsetzens
Für mich begannen Wochen des Staunens, Entsetzens und der Desillusionierung. Jeden frühen Morgen, wenn meine Kinder noch schliefen und ich aufstand, um meine Arbeit als freiberufliche Texterin zu erledigen, ging ich erstmal auf YouTube und hörte mir an, was Hoffmann heute wieder erzählen würde. Meine Arbeit litt ein wenig. Die Videos waren meist nur ca. 10 bis 30 Minuten lang, aber ich war danach oft so verstört, dass ich Schwierigkeiten hatte, meine Auftragstexte zu schreiben. Stattdessen suchte ich nach weiterführenden Infos über die Themen, Menschen und Ereignisse, die Dustin Hoffmann ansprach. Jeden Tag erzählte ich meinem Mann etwas Neues, was ich eigentlich unfassbar fand. Am liebsten hätte ich es der ganzen Welt erzählt. Immerhin bekam ich die Möglichkeit, einen Artikel über Julian Assange in einer regionalen Zeitschrift zu veröffentlichen (Ausgabe Oktober 2020/S. 4 – 5).
Irritierend war natürlich, wie die Justiz mit Julian Assange umging: Es musste in einem Glaskasten sitzen. Durfte vor Gericht kein Wort sagen. Mehrmals hatte er es versucht und war dafür beinahe von seiner eigenen Verhandlung ausgeschlossen worden. Er und seine Anwälte hatten keine Möglichkeit bekommen, das Verfahren richtig vorzubereiten. Irritierend war auch, wie willkürlich die Richterin einen Tag vor Prozessbeginn verschiedenen NGOs und politischen Beobachtern den Link zum Videostream entzog, sodass sie das Verfahren nicht beobachten konnten. Irritierend war außerdem der respektlose Umgang der Anklage mit einigen geladenen Zeugen.
Dustin Hoffmann hatte in seinem zweiten Video noch sachlich erklärt, es klinge hart, aber der Job der Anklage sei es nun einmal, die geladenen Zeugen zu diskreditieren oder als unglaubwürdig darzustellen. Im Laufe der weiteren Verhandlung hat man aber dem Prozessbeobachter – der selbst Jurist ist – angemerkt, wie die Methoden und das Verhalten der US-Anwälte und teilweise auch der Richterin ihn irritierten. Er bezeichnete es gerne als „merkwürdig“.
Ein Beispiel dafür ist die Vernehmung des Neuropsychiaters Michael Kopelman, der über die Selbstmordgefährdung Assanges ausgesagt hatte. Dustin Hoffmann berichtet und bewertet diese Vernehmung in seinem Video „Assange Hearing Tag 11“:
Interessanterweise war zwar letztendlich die Aussage von Prof. Kopelman mitunter am ausschlaggebendsten dafür, dass die Richterin in erster Instanz die Auslieferung von Assange abgelehnt hat. Denn das hat sie ja ausschließlich, weil sie ihn gesundheitlich als für nicht in der Lage beurteilt hatte, eine Auslieferung psychisch zu überstehen. Ansonsten hatte sie sich der amerikanischen Anklage in allen Punkten angeschlossen, unabhängig von allen anderen Zeugen und Sachverständigen, die der Anklage deutlich widersprochen hatten.
Aber die Richter in der nächsten Instanz hatten dann eine Anfechtung des Gutachtens ebendieses Psychiaters zugelassen. Und im Berufungsverfahren ist dann schließlich entschieden worden, dass Michael Kopelman die Richterin mit seinem Gutachten wohl getäuscht hätte, denn er hatte nicht erwähnt, dass Assange eine Lebensgefährtin und zwei kleine Kinder hat – deshalb durfte Assange dann doch ausgeliefert werden.
Dustin Hoffmanns Video über das Berufungsverfahren
So viel Folter – wo leben wir eigentlich?
Bevor ich mich mit Julian Assange befasst habe, war Folter für mich eine mittelalterliche Methode. Man kann in Museen gehen und sich in Folterkellern anschauen, was Menschen früher anderen Menschen angetan haben. Wie grausam und barbarisch die waren, zum Glück sind wir heute weiter.
Aber leider sind wir heute kaum bis gar nicht weiter. Die CIA foltert und lässt foltern wie verrückt, die heftigsten Foltermethoden finden nur eben nicht auf amerikanischem Boden statt, und das alles wurde offenbar ganz offen vor Gericht in London besprochen, sonst hätte es Dustin Hoffmann ja auch nicht erzählen können (damit möchte ich natürlich nicht behaupten, dass NUR die CIA foltert!)
So grauenvolle Verbrechen gegen die Menschlichkeit, für die niemals jemand zur Rechenschaft gezogen wurde – und vor Gericht sitzt ein Publizist, der niemals jemandem ein Haar gekrümmt hat. Er sitzt in seinem Glaskasten wie ein Schwerverbrechen und soll für Jahre ins amerikanische Gefängnis, vielleicht sogar für den Rest seines Lebens.
Am heftigsten getroffen hat mich der Fall des Deutsch-Libanesen Khaled al-Masri, der von der CIA in ein Geheimgefängnis nach Afghanistan verschleppt und dort monatelang gefoltert worden ist. Warum? Weil man halt dachte, er sei ein Terrorist. Er hatte denselben Namen wie einer, den die CIA im Visier gehabt hatte. Diese Verwechslung blieb für die Verwechsler natürlich ohne Konsequenzen, auch wenn das Amtsgericht München internationale Haftbefehle gegen einige CIA-Mitarbeiter erlassen hatte. Die amerikanische Regierung sorgte durch Druck auf die deutsche Regierung schon dafür, dass ihre Folterer keine juristischen Folgen zu tragen hatten. Und dass es amerikanische Geheimgefängnisse gibt, wo Terrorverdächtige gefoltert werden, wird schon mal gar nicht in Frage gestellt.
Das Statement von Khaled al-Masri ist am Verhandlungstag 9 verlesen worden, nachdem die Anklage zuvor gefordert hatte, dieses Statement nicht verlesen zu lassen. Dustin Hoffmann berichtet davon in diesem Video. Auch das Statement von Dean Yates an diesem Tag ist erschütternd und spukt bis heute in meinem Kopf herum.
Assange und das Image des verantwortungslosen Geheimnisverräters
Dass Assange ungerecht behandelt wird, ist inzwischen in der Öffentlichkeit mehr oder weniger Konsens. Auch redet keiner mehr davon, dass er ein Vergewaltiger ist. Aber ein Vorwurf hält sich bis heute hartnäckig: Nämlich der, dass Assange unsauber gearbeitet und deshalb Menschen gefährdet hat. Man weiß zwar, dass es niemanden gibt, der nachweislich durch die von WikiLeaks veröffentlichten Dokumente zu Schaden gekommen ist, aber dennoch: Wer ungeschwärzt Namen aus einem Geheimdienst- und Kriegskontext veröffentlicht, bringt Menschen natürlich in Gefahr. Diesen Vorwurf kann man Assange machen, auch wenn man ihm edle Motive zugesteht.
Zumindest kann man diesen Vorwurf so lange machen, bis man sich anhört, was vor Gericht besprochen worden ist. Dort war nämlich John Goetz als Zeuge geladen, der zu Zeiten der WikiLeaks-Veröffentlichungen für den SPIEGEL gearbeitet hat. Und er hat erzählt, dass Assange mit seinen sorgfältigen Schwärzungen allen Journalisten auf die Nerven gegangen ist. Sie wollten endlich ihre Storys raushauen, aber Assange schwärzt und schwärzt und wird einfach nicht fertig, weil es so viele Dokumente gibt.
Dustin Hoffmann über die Aussage von John Goetz.
Dafür, dass dann schließlich doch die ungeschwärzten Namen im Internet landeten, war nicht Assange verantwortlich, sondern ein Journalist vom Guardian namens David Leigh. Er hat das Passwort zu den ungeschwärzten Dateien, die Assange eigentlich gut gesichert hatte, in einem Buch veröffentlicht. Das Passwort hatte er zuvor von Assange im Vertrauen und unter Verwendung verschiedener Sicherheitsmaßnahmen erhalten.
Die Plattform Cryptome hat die Dateien dann komplett ungeschwärzt ins Internet gestellt. Sie sind dort bis heute, keiner stört sich daran, keiner klagt die Betreiber dieser Webseite an oder behauptet pathetisch, sie hätten Blut an den Händen. Erst als all das geschehen war, stellte schließlich auch WikiLeaks die Dateien ungeschwärzt online. Was bleibt letztendlich also übrig von dem Vorwurf, Julian Assange hätte unverantwortlich gehandelt und bewusst oder grob fahrlässig Menschenleben gefährdet…?
Das Assange-Verfahren: Rechtsstaatlich oder nicht…?
Dustin Hoffmann, der seine Prozessberichterstattung immer so objektiv und sachlich wie möglich gehalten hat, hat in seiner Zusammenfassung am Ende der ersten Woche betont, man solle nicht gleich von einem „Schauprozess“ sprechen. Nach meinem Zuschauereindruck hatte er damals noch Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit Großbritanniens, auch wenn ihm viele Ungereimtheiten im Zuge des Prozesses aufgefallen waren.
Wenn ich mich nicht täusche, sieht das der ehemalige Prozessbeobachter inzwischen anders. Am 21. Dezember twitterte er, nach dem das Urteil im Berufungsprozess verkündet worden ist: „Die USA gewinnen die Berufung im Fall der Assange-Auslieferung. Das Vereinigte Königreich hat sich damit von der Rechtsstaatlichkeit verabschiedet. Die diplomatischen Zusicherungen, die die USA gegeben haben, reichen dem Gericht aus. Der Staat, der Mordpläne gegen Assange ausgeheckt hat, soll nun vertrauenswürdig in Sachen Gefangenenbehandlung sein. Es ist grotesk und widerwärtig.“
Teil 3: Leon Panetta lacht über Menschenrechte
Teil 2: Assange ist ein Folteropfer – Erkenntnisse eines UN-Sonderberichterstatters
Teil 1: Wissen oder Nichtwissen? Wie der Fall Julian Assange mein Weltbild verschlechtert hat