Buchstaben-Wirrwarr

Nathalie Klüver ist ganz begeistert vom Prinzip der Ganztagsschule. Sie wird nicht müde, darauf hinzuweisen, dass man Kindern und Familien keinen größeren Gefallen tun kann, als möglichst alle Kinder in die Ganztagsschule zu schicken, und sogar dass in Frankreich die Ganztagsschule verpflichtend ist, findet sie klasse.

Ich verstehe das nicht. Frau Klüver sagt selbst, dass man die Bedürfnisse der Kinder berücksichtigen muss, nicht über ihren Kopf hinweg entscheiden darf und ihre Rechte achten, ja sogar ins Grundgesetz aufnehmen muss.

Aber hat sie sich mal umgehört, wie Kinder es finden, den ganzen Tag in der Schule zu sein? Hat sie Kinder mal gesehen nach einem Schultag von 8:00 bis 16:00 Uhr? Wahrscheinlich schon, ja, schließlich hat sie selbst Kinder und ich gehe davon aus, dass sie in einer Ganztagsklasse sind. Vielleicht kommen sie damit gut zurecht. Aber bevor wir der ganzen Gesellschaft mit blinder Begeisterung dieses Modell überstülpen – und in diese Richtung bewegen wir uns leider – ist es unbedingt notwendig, auch die anderen Kinder zu sehen. Die, die unter der Ganztagsschule leiden. Und zu berücksichtigen, was alles verloren geht im Leben eines Kindes, welches bis zum späten Nachmittag in der Schule bleibt.

„Es war die Hölle“ – Eindrücke davon, wie manche Kinder es finden, den Nachmittag in der Schule zu verbringen

Ich bin beruflich dort tätig, wo Kinder in ihrer Freizeit hingehen, denn ich unterrichte ein Musikinstrument. Dazu später noch mehr. Ich unterrichte auch Kinder, die um 16:00 mit ihren dicken Schulranzen direkt aus der Nachmittagsbetreuung/ Ganztagsklasse zu mir kommen. Eins dieser Kinder bricht regelmäßig in Tränen aus, weil wir uns nicht einig werden, welches Lied sie nun spielen soll. Und ich weiß, dass sie große Lust hat(te), das Instrument zu lernen. Als sie noch bis mittags im Kindergarten war, hatten wir eine wunderschöne Zeit zusammen. Aber seit das Kind bis zum späten Nachmittag in der Schule ist, ist es ein Nervenbündel. Ein anderes Kind bekomme ich manchmal kaum dazu, überhaupt irgendeinen Ton zu spielen: „Ich will doch einfach nur nach Hause!

Interessanterweise hat direkt nach diesem Kind ein anderes Kind aus derselben Klasse Unterricht bei mir, welches nicht in die Nachmittagsbetreuung muss. Es kommt gut erholt von zuhause und ist schon wieder motiviert und aufnahmefähig. Über seinen Klassenkamerad hatten wir mal ein Gespräch. Es handelt sich um Viertklässler.

Kind: „Kommt Max (der Name ist natürlich ausgedacht) etwa direkt aus der Schule??

Ich: „Ja, er hat einen ganz schön langen Tag, nicht wahr?

Kind: „Der Arme. Ich musste auch mal in die Nachmittagsbetreuung, als ich noch kleiner war. Das war wirklich die Hölle!

Für manche Kinder, Frau Klüver, ist der Nachmittag in der Schule also die Hölle. Ich trage gerne noch ein paar Aussagen der Kinder zusammen, die Redebedarf haben und mir von ihrem Schulalltag erzählen:

Mein Freund darf nach der Schule einfach nach Hause gehen, aber ich muss in die Nachmittagsbetreuung. Das ist so eine sinnlose Lebenszeitverschwendung! Zuhause könnte ich einfach machen, was ich will!

Dasselbe Kind musste dann in der 5. Klasse in die Ganztagsklasse gehen. Kurz vor den Sommerferien hab ich gefragt: „Du kommst ja jetzt dann in die 5. Klasse. Freust du dich schon?

Kind (vollkommen frustriert): „Was? Freuen? Nein, ich hab dann NOCH LÄNGER Schule!

Noch mehr Zitate? Gerne!

  • Die Ganztagsklasse ist ganz schön anstrengend!“
  • Wenn ich könnte, würde ich sofort in die Halbtagsklasse wechseln!“
  • Ganztagsklasse ist total blöd“
  • Wie kann man nur freiwillig in die Ganztagsklasse gehen? Das kann ich nicht verstehen!“

Zugegeben, ich kenne auch Kinder, die gerne in die Ganztagsklasse gehen. Fragt man dann nach, welcher Tag denn am schönsten ist, heißt es dann oftmals doch: „Donnerstag und Freitag – da darf ich früher nach Hause!

Die Ganztagsschule könnte die Kinderrechte teilweise verletzen

Aber nichtsdestotrotz steht es mir nicht zu, zu behaupten, Ganztagsklassen seien generell sehr schlecht für Kinder und es dürfe sie nicht geben. Gerade Kinder, bei denen es zuhause nicht gut läuft, können in der Ganztagsklasse gut aufgehoben sein, auch wenn ich der Meinung bin, dass das ein eher schlechter als rechter Ersatz für intakte Familienverhältnisse ist.

Aber ebenso wenig steht es Nathalie Klüver zu, flächendeckend Ganztagsschulen zu fordern und sie generell als kinderfreundlich zu deklarieren. Viele Kinder, vor allem die Introvertierten, und das sind sicherlich nicht wenige, leiden darunter. Natürlich brauchen Schulkinder andere Kinder, aber sie brauchen auch Zeit ohne ihre Klassenkameraden, nur für sich. Oder für sich und diejenigen Kinder, die ihre besten Freunde sind und mit welchen sie sich in ihrer Freizeit treffen ohne dass all diejenigen, mit welchen sie nur über die Schule verbunden sind, nicht aber über persönliche Sympathie zueinander, dabei sind. Dass Gleichaltrige mit Gleichaltrigen zusammen sind, ist wichtig, doch wenn sie zu viel und zu lang zusammen sind, kommt es auch schnell zu sozialen Problemen wie Mobbing. Dazu hat zum Beispiel der Autor Rainer Stadler in seinem Buch „Vater Mutter Staat“ ein paar interessante Absätze in seinem Kapitel zur Ganztagsschule.

Ich finde auch den Artikel „Mogelpackung Ganztagsschule“ von Bettina Wiesmann aus der FAZ nicht schlecht. Sie spricht einige der Probleme an, die ich auch sehe, und betont, dass man vorsichtig dabei sein muss, „Kindern soziale Umgebungen für zu lange Zeiträume am Tag vorzugeben.“

Die Kinderrechte, deren Aufnahme ins Grundgesetz Frau Klüver fordert, werden von der Ganztagsschule meiner Meinung nach teilweise verletzt. Ich hab da besonders das Recht auf Freizeit, Spiel und Erholung im Blick. Im Umfeld der Schule, wo du unter ständiger Beobachtung einer Lehrkraft oder einer anderen erwachsenen Betreuungsperson bist, viele andere Kinder um dich rum hast, von denen du nicht alle super gut leiden kannst, und nie das machen kannst, worauf du persönlich jetzt gerade Lust hast, kannst du dich nicht erholen, auch nicht in der Mittagspause. Viele Kinder, die nach der Ganztagsschule nach Hause kommen, sind k.o. Auch da hab ich schon einige Kinder gefragt, was sie denn heute noch vor haben. Und? „YouTube gucken!

Traurig, oder? Aber wenn du klein bist, einen so langen Tag hinter dir hast und es in einer oder zwei Stunden eh schon wieder Abendessen gibt und du dann bald ins Bett musst, weil ein nächster langer Tag auf dich wartet, was sollst du dann noch groß machen? Die Freizeit, das Spiel und die Erholung sind dann bei vielen Kindern auf das Wochenende und die Ferien beschränkt. Reicht das? Meiner Meinung nach nicht. Wir reden seit Jahren davon, dass wir Erwachsenen zu viel arbeiten. Dass acht Stunden Vollzeit eigentlich viel zu viel sind und psychische Erkrankungen immer mehr werden. Aber Kinder sollen den ganzen Tag in der Schule sein?

Ich kann mich auch stark mit den Warnungen des ehemaligen Gymnasialdirektors und Präsidenten des Deutschen Lehrerverbands, Josef Kraus, vor den Folgen der Ganztagsschule für die Entwicklung der Kinder identifizieren: „Unsere Kinder brauchen keine Schule total. Nur Schule und nichts anderes – das wäre eine Verarmung der Entwicklung der Kinder. Wer das Außerschulische aus dem Alltag der Kinder eliminiert oder als Abziehbild in die Schule hineinnehmen möchte, der kippt viel Wertvolles über Bord. Förderung von Selbstständigkeit, Eigenverantwortung und Persönlichkeitsentwicklung heißt schließlich, dass Kinder ihre Freizeit frei gestalten und dass sich Kinder nachmittags auch eigenständig auf den Hosenboden setzen und selbst arbeiten.“ (Josef Kraus, Helikoptereltern, S. 204)

Statt mehr Kinder in die Ganztagsschule zu schicken, sollten wir unser ganzes Schulsystem kinderfreundlicher gestalten

Dass bei Kindern die psychischen Erkrankungen auch immer mehr werden, seit Jahren, auch schon vor der Corona-Pandemie, dass viele von ihnen fehlerhafte ADHS-Diagnosen gestellt bekommen und dann mit Medikamenten behandelt werden, weil sie in der Schule sonst nicht funktionieren (es gibt mehrere Dokumentationen dazu, hier ein kurzer Beitrag vom ARD-Mittagsmagazin), davon liest man in Frau Klüvers Buch leider nichts. Da hat Gunda Frey mit dem Buch „Das verstaatlichte Kind“ das meiner Meinung nach deutlich kinderfreundlichere Buch geschrieben. Als Traumatherapeutin ist sie an den Kindern und ihren psychischen Beschwerden direkt dran und auch sie plädiert für eine Umstellung der Gesellschaft zum Wohl der Kinder, aber mit völlig anderen Schwerpunkten.

In einem Buch, das für mehr Kinderfreundlichkeit plädiert, hätte ich mir statt der Forderung nach mehr Ganztagsschule die Forderung nach einer umfassenden Reform des Schulsystems gewünscht. Kinder haben in der Schule keinen Spaß und sind zu hohem Druck ausgesetzt, oder, wenn man das drastischer ausdrückt, wie die Grundschullehrerin Katharina Meuser in einem Gastartikel für das Multipolar Magazin: „Im Normalbetrieb gleicht der Unterricht einer Gänsemästung: Kleine, neugierige Kinder werden in viel zu großen Klassen zusammengepfercht. Nach einem rigiden Lehrplan stopft man möglichst viel vorgegebenes Wissen, in immer kürzerer Zeit, in sie hinein. Viele Schüler können das Tempo nicht mithalten, weisen Leistungsdefizite, Entwicklungs- und Verhaltensstörungen sowie ungenügende Deutschkenntnisse auf.

Und die Tatsache, dass Bildung Kinder krank macht und viele Kinder in der Schule sogar ihre natürliche Neugier danach, etwas zu lernen, verlieren, macht Deutschland in der Tat zu einem kinderfeindlichen Land!

Beitragsbild von Gerd Altmann auf Pixabay

Ein Gedanke zu „Teil 2: Ich finde es nicht kinderfreundlich, den ganzen Tag in der Schule zu sein“
  1. Ich stimme dir aus ganzem Herzen zu und würde gerne noch hinzufügen, dass bei diesen Plänen der aktuell schon katastrophale Lehrermangel komplett ignoriert wird. Viele Bundesländer stellen schon seit Jahren Quereinsteiger ein, deren didaktische und pädagogische Ausbildung noch lückenhafter ist als die der staatlich ausgebildeten Lehrer. Und trotzdem fehlt es überall an Lehrern, jedes Jahr mehr. Wer soll sich denn dann den ganzen Tag um die Kinder kümmern? Und wie soll hier noch sinnvoll nach Eignung gefiltert werden? Also hätten wir zu wenige, überarbeitete und teilweise ungeeignete Lehrer, denen unsere Kinder dann auch noch den ganzen Tag ausgeliefert wären. Na super.

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