Ich begann zu suchen. Meine erste Erkenntnis war: In den großen Leitmedien bleibt der Fall im Jahr 2020 oberflächlich. Es wird berichtet, aber die Artikel sind kurz und am Ende immer derselbe Absatz, den die Journalisten wohl über Copy-&-Paste von anderen Medien oder Nachrichtenagenturen abschreiben. Manchmal ist er auch leicht umgeschrieben. Aber er lautet in etwa:
„Die USA werfen Assange vor, der amerikanischen Whistleblowerin Chelsea Manning – damals noch Bradley Manning – geholfen zu haben, geheimes Material von US-Militäreinsätzen im Irak und in Afghanistan zu veröffentlichen. Insgesamt liegen 18 Anklagepunkte vor, die meisten nach dem US-Spionagegesetz. Bei einer Verurteilung in allen Punkten drohen ihm 175 Jahre Haft.“
Wer sich für Details interessiert, kommt hier nicht weiter. Ich weiß noch, dass ich mir die Informationsschnipsel mühsam zusammensuchte, auf kleineren, häufig eher links orientierten Medien oder indem ich nach Details suchte, die die Leitmedien zwar erwähnten, aber nicht weiter ausführten. Bis ich schließlich herausfinden konnte, dass sich der UN-Mitarbeiter Nils Melzer, der Sonderberichterstatter über Folter, ausführlich zum Fall Assange geäußert hatte. Ich fand auf YouTube ein Video aus einer Pressekonferenz der Linken (zumindest sieht das Video für mich nach einer Pressekonferenz aus), wo Herr Melzer eingeladen war und einen Vortrag über Julian Assange hielt. Mir klappte die Kinnlade herunter.
Nils Melzer: „Vor unseren Augen kreiert sich ein mörderisches System“
Folter? An einer Person, die jeder kennt, und doch höre ich zum ersten Mal davon? Folter im Westen? Ich erfuhr, dass Assange nicht einfach nur inhaftiert ist, nein, er sitzt isoliert im Hochsicherheitsgefängnis. Und zwar ausschließlich wegen – zunächst – Kautionsverletzungen, die, laut Nils Melzer, ansonsten fast nie mit Freiheitsentzug bestraft werden. Die übertriebe Haftstrafe von fast einem Jahr hatte er schon abgesessen, als ich in den Fall eingestiegen bin, und er war nur noch in Präventivhaft aufgrund des Auslieferungsantrags der USA.
Nils Melzer fragte sich, wo denn der Rechtsstaat sei im Fall Assange. Er erzählte, das Auswärtige Amt in Deutschland habe seine Berichte zu dem Fall nicht gelesen. Und mein Weltbild begann zu bröckeln. Ich fragte mich, wofür ein Sonderberichterstatter denn da ist, wenn die Regierungen seine Berichte nicht lesen, wenn etwas drinsteht, was sie nicht wissen möchten. Ist vielleicht alles nur Fassade bei uns? Kann man sich auf den Staat verlassen, wenns drauf ankommt?
Neben Melzers Vortrag auf der besagten Pressekonferenz hatte ich ein großes Interview mit ihm im Schweizer Onlinemagazin Republik gefunden. Es war Ende Januar 2020 erschienen und trug den Titel „Vor unseren Augen kreiert sich ein mörderisches System“. Das Interview ist lang und es ist entsetzlich. Und Herr Melzer warnt darin eindringlich, den Fall als Präzedenzfall gegen die Pressefreiheit nicht zu unterschätzen. Er warnt davor, wie gefährlich mangelnde staatliche Transparenz ist. Seine letzten Worte lassen einen nachdenklich zurück:
„Als Uno-Sonderberichterstatter für Folter und vorher als IKRK-Delegierter habe ich schon viel Schrecken und Gewalt gesehen. Wie schnell sich friedliche Länder wie Jugoslawien oder Ruanda in eine Hölle verwandeln können. An der Wurzel solcher Entwicklungen stehen immer Strukturen mangelnder Transparenz und unkontrollierter politischer oder wirtschaftlicher Macht, kombiniert mit der Naivität, Gleichgültigkeit und Manipulierbarkeit der Bevölkerung. Plötzlich kann das, was heute immer nur den anderen passiert – ungesühnte Folter, Vergewaltigung, Vertreibung und Ermordung – ebenso gut auch uns oder unseren Kindern passieren. Und es wird kein Hahn danach krähen. Das kann ich Ihnen versichern.“
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