Ich habe schon lange kein gutes Bild von unseren westlichen Gesellschaften, sie kommen mir irgendwie absurd vor mit ihrer kapitalistischen Huldigung der heiligen Wirtschaft, der wir bereit sind alles zu opfern, von der Moral über das Wohl und die Gesundheit des einzelnen Menschen bis hin zur Natur mitsamt allem nichtmenschlichen Leben. Trotzdem habe ich immer die Auffassung vertreten, es sei ein großes Glück, in Westeuropa zu leben, denn immerhin leiden wir keinen Hunger, werden medizinisch versorgt und leben in Frieden. Und natürlich vertrete ich diese Auffassung irgendwie noch immer und bin froh, hier in Deutschland zu sein. Meine Tochter ist mit einem schweren Herzfehler geboren worden und die besten Kinderherzchirurgen haben ihr Herz mehrmals operiert. Ohne dass ich irgendetwas – abgesehen von meinen Krankenkassenbeiträgen – für diese erstaunlichen und lebensrettenden Leistungen bezahlen musste. Sie ist heute ein fröhliches und lustiges Kindergartenkind, das ihr Leben fast ohne Einschränkungen leben kann und wie könnte ich als Mutter dafür nicht dankbar sein? In vielen anderen Teilen der Welt wäre sie einfach nach zwei Wochen gestorben und ich hätte sie niemals wirklich kennengelernt.
Aber fange ich an, politisch zu denken, kann ich seit meiner eigenen „Politisierung“, die mit Julian Assange begonnen hatte, einfach nicht mehr einstimmen in dieses Loblied auf die freie, demokratische, westliche Welt. Die Kriege, die unsere „Anführer“, die amerikanischen Regierung, in so viele Länder getragen haben, die Kriege, die wir mit Waffenlieferungen unterstützen, richten so viel Leid an und wir nehmen das einfach so hin, kehren das unter den Teppich und tun so, als seien das aufrichtige Demokraten da an unseren Staatsspitzen, die sich wirklich für Menschenrechte interessieren und die Welt besser machen möchten.
Auf wessen Schultern steht unsere Außenministerin da eigentlich…?
Ich selbst war offen für Annalena Baerbock und habe ihr ehrlich eine Chance gegeben. Und viele Bekannte, mit denen ich in Sachen Umweltschutz voll einer Meinung bin, die sich ebenso wie ich nach einer Verkehrswende und weniger Fleischkonsum und weniger Vermüllung sehnen, werden es nicht nachvollziehen können, dass die Frau für mich komplett unten durch ist. Weil sie den Ukrainekrieg antreibt und dafür moralisch den Zeigefinger hebt, von toten Zivilisten und Kriegsverbrechen spricht, als wäre es nicht selbstverständlich, dass noch mehr Waffen und noch längerer Krieg noch mehr Tote bedeuten. Vor allem aber, weil sie gleichzeitig Madeleine Albright in den Himmel lobt, als Freiheitskämpferin und Demokratin, und von sich selbst behauptet, auf ihren Schultern zu stehen.
Nun kennen nicht viele Menschen die Ansichten dieser amerikanischen Politikerin zu toten Zivilisten im Krieg. In dem Fall ging es um 500.000 (!!!!!) tote irakische Kinder infolge des ersten Irakkrieges und der damit einhergegangenen Sanktionen.
Die Interviewerin weist sie auf eben diesen Tod der ungefähr 500.000 irakischer Kinder hin und fragt sie, ob es das wert war. Madeleine Albright sagt kühl: „I think that this is a very hard choice. But we think the price was worth it.” (“Das ist eine schwere Entscheidung, aber wir glauben, das war es wert.”
Als Annalena Baerbock von sich selbst sagte, sie stehe auf Albrights Schultern, ist mir die Kinnlade heruntergeklappt. Aber sich dann auch noch hinzustellen und herum zu heulen wegen toten Menschen in der Ukraine, das kann doch dann keiner mehr ernst nehmen. Wer stolz auf den Schultern seiner solchen Person steht, interessiert sich nicht wirklich für tote Zivilisten, sondern instrumentalisiert sie nur, wenn es gerade passt. Anders kann man das doch nicht mehr interpretieren, oder?
Wie viel Schuld hat der Westen am Elend der Welt?
Ich hatte immer Empathie mit Menschen aus anderen, ich sage mal „benachteiligten“ Orten der Welt, habe mir die Lebensgrundlagen, die wir hier haben, für alle gewünscht. Aber wie viel Schuld an der Situation anderer haben wir im Westen eigentlich? Das ist eine Frage, die weh tut und unangenehm ist – denn wie bereits erwähnt, wir sind doch empathische Wesen und möchten nicht, dass jemand leidet, schon gar nicht wegen uns. Aber Julian Assange hat diese Frage mit seinen Veröffentlichungen gestellt. Er hat uns mit der schmerzlichen Wahrheit konfrontiert, dass unsere Regierungen Verbrecher sind, die unzählige Menschenleben in anderen Teilen der Welt auf dem Gewissen haben.
Die Rede des indischen Journalisten Vijay Prashad im Rahmen des sogenannten „Belmarsh Tribunal“ hat mich tief berührt. Ich möchte sie ans Ende dieser langen Artikelreihe stellen. Er erklärt, warum Julian Assange, Chelsea Manning und ihre Veröffentlichungen so unglaublich wichtig waren. Und er macht uns Vorwürfe, oder sagen wir: Unseren Politikern. Die haben sie verdient. Aber sich die Rede mal anzuhören und sich ein bisschen Gedanken über das eigene Weltbild zu machen, das würde jedem einzelnen Menschen im „Westen“ nicht schaden. Es sind nur ein paar Minuten, aber sie machen demütig. Sowas hätte ich früher nicht gesehen, ich hätte gar nichts von mitbekommen von der Perspektive von Menschen wie Vijay Prashad. Es ist bedrückend. Aber es ist nun einmal so. Ich weiß nicht, ob es immer so bleiben wird. Aber bei einem bin ich ziemlich sicher: Wenn wir nichts wissen, können wir auch nichts verbessern. Deshalb: Danke Julian und Free Assange!
Teil 9: Neues Misstrauen gegenüber den Leitmedien: „Glaubst du, dass die Tagesschau lügt?“
Teil 8: Julian Assange und das Elend der Welt. Möchte ich das alles überhaupt wissen?
Teil 7: Die Medien werden lauter – lohnt es sich, doch wieder Hoffnung zu haben?
Teil 3: Leon Panetta lacht über Menschenrechte
Teil 2: Assange ist ein Folteropfer – Erkenntnisse eines UN-Sonderberichterstatters
Wissen oder Nichtwissen? Wie der Fall Julian Assange mein Weltbild verschlechtert hat Teil 1