Mein Blick auf das Weltgeschehen und auf die Medienlandschaft hat sich verändert, seit ich angefangen habe, den Fall Julian Assange zu verfolgen. Ich habe viel gelernt und erfahren, was ich früher nicht wusste. Und zwangläufig stellt sich mir die Frage: Habe ich mir mit diesem Wissen wirklich einen Gefallen getan? Wohin mit all den Erkenntnissen, wenn man doch eh weiß, dass man alleine weder Julian frei bekommt, noch die Macht der Kriegsverbrecher geschweige denn das Leid der Welt reduziert. Und wenn man weiß, dass es sich scheiße anfühlt, den ganzen Mist zu wissen, und seine Freunde und Angehörigen eigentlich nicht damit belasten möchte.
Wir brauchen das unangenehme Wissen, um die Welt besser zu machen
Andererseits ist das Wissen unangenehmer Tatsachen genau das, wofür Julian Assange sich eingesetzt hat. Es ist auch das, wofür er seit Jahren gequält wird. Deshalb hassen ihn die Mächtigen der Welt doch so sehr: Sie wollen nicht, dass wir zu viel wissen. Wir sollen die Fresse halten, unser unpolitisches Privatleben leben, alle paar Jahre mal ein Kreuz setzen und sie einfach machen lassen. Wenn das Unrecht irgendwann zu uns kommt, haben wir Pech gehabt. Aber solange nicht wir gefoltert werden, solange es nicht unsere Hochzeitsgesellschaften sind, die mit Drohnen massakriert werden, solange können wir uns doch freuen und uns bitte einfach nicht einmischen.
Dabei sind wir Menschen doch fähig zur Empathie. Mit einer aufgeklärten Gesellschaft, die weiß, was anderen Menschen auf der Welt für ein Leid wiederfährt, kann man nicht einfach Machtinteressen durchsetzen ohne Rücksicht auf Menschenrechte. Das empört uns. Wir wollen solche Leute, die anderen Gräuel antun, nicht unterstützen und nicht wählen. Menschen, die wissen, aus welchen geostrategischen Zielen Kriege begonnen und fortgeführt werden, werden auch niemals einem Krieg zustimmen, weil es jeder Vernunft entbehrt, sich selbst oder andere für geostrategische Ziele einiger Weniger zu opfern, die von der Lebenswirklichkeit eines normalen Menschen vollkommen entkoppelt sind. Deshalb lügt man ganze Bevölkerungen an und denkt sich Gründe aus, die die Menschen auf Gefühlsebene berühren. Das ist, denke ich, genau das, was Julian Assange mit seinen Sätzen in diesem Interviewausschnitt meint.
Wir sollen sie nicht leiden sehen – aber wir müssen hinsehen
Erst sollten wir das Leid der Afghanen und Iraker nicht sehen, die doch freundlicherweise befreit werden und dankbar sein sollen. Wir sollten nicht wissen, dass sie massakriert und gefoltert werden. Julian Assange hat es uns zusammen mit Chelsea Manning, deren Mut und Integrität man gar nicht genug wertschätzen kann, gezeigt. Er hat, wie der Freitag-Redakteur Sebastian Puschner so wunderbar treffend geschrieben hat, „in Zeiten des rücksichtslosen Tötens für einen kurzen Moment die dicken Vorhänge der Propaganda zur Seite geschoben, hinter denen das sichtbar wurde, was wir nicht gerne sehen, zumal, wenn es im Namen der Demokratie verübt wird.“
Dann sollten wir Julian Assanges eigenes Leiden nicht sehen. Er wurde dämonisiert und seine Lebenssituation verharmlost. Aber auch hier gab es einige integre Menschen, allen voran Nils Melzer, die wieder dicke Vorhänge zur Seite geschoben haben und uns vor Augen geführt haben, dass Julian Assange kein Dämon ist, kein emotionsloser Soziopath und Spion, sondern ein Mann mit Stärken und Schwächen wie wir alle, der es gut gemeint hat und dem man das Leben zur Hölle macht.
Man soll sie alle nicht sehen, die Leidenden auf der Welt, weil man dann das System in Zweifel ziehen würde, welches uns als alternativlos verkauft wird. Die Sklavenarbeiter in Katar, die afrikanischen Kinder, die unter der Unterernährungskrankheit Noma leiden, deren Gesichter von Bakterien wortwörtlich aufgefressen werden, obwohl genug Vermögen und Essen weltweit da wäre, um jedes Kind und überhaupt jeden Menschen satt zu bekommen. Die Mütter in Bangladesch, die den ganzen Tag nähen, um die Existenz ihrer Kinder zu sichern, deren Kindheit sie dadurch gänzlich verpassen. Die Schweine, Puten, Hühner und andere fühlenden Lebewesen, die in ein System geraten sind, in welchem sie bereits bei ihrer Geburt nicht als Lebewesen, sondern als Nahrungsmittel behandelt werden.
Wir Menschen können grausam sein, man kann uns durch Manipulation oder Misshandlung dazu bekommen, grausame Dinge zu tun, aber im Allgemeinen wollen wir doch alle gute Menschen sein, die niemandem schaden. Wir wollen kein Leid sehen, weil wir dann Mitleid empfinden, und Mitleid tut uns weh. Und erst recht wollen wir nicht daran schuld sein, dass es jemandem schlecht geht.
Wer Bescheid weiß, kann sich den Kriegstreibern und Turbokapitalisten verweigern
In seinem Buch „Hybris am Hindukusch. Wie der Westen in Afghanistan scheiterte“ fordert der Autor und Präsident der Deutsch-Arabischen Gesellschaft, Michael Lüders, ganz am Ende in seinen letzten Sätzen: „Verweigern wir uns denen, die Kriege führen (wollen), und denen, die weiterhin auf ein ungebremstes, umweltzerstörendes wirtschaftliches Wachstum setzen. Es handelt sich dabei um die beiden Seiten derselben Medaille.“ (Ich habe das Buch in diesem Beitrag ausführlich besprochen.)
Aber um uns verweigern zu können, müssen wir wissen. Und deshalb war Julian Assanges Idee, WikiLeaks zu gründen, genau das, was die Welt braucht. Wissende Bevölkerungen lassen den Mächtigen ihre Kriegstreiberei und ihren gnaden- und gewissenlosen Turbokapitalismus nicht so einfach durchgehen, das ist denen sicherlich bewusst.
Manchmal werde ich melancholisch vor lauter Weltschmerz und dann höre ich einen meiner Lieblingssong, „Kein Zurück“ von Wolfsheim. Der Sänger der Band, Peter Heppner, singt darin:
„Ach und könnt‘ ich nur, nur ein einziges Mal,
die Uhren rückwärts drehen.
Denn wie viel von dem, was ich heute weiß,
hätt‘ ich lieber nie gesehen.“
Und so geht es mir manchmal. Ich fand viele Dinge schon schmerzhaft und bedrückend, bevor ich mich mit Julian Assange und all dem, was zu seinem Schicksal dazu gehört, beschäftigt habe, aber seitdem ist mir das schier unendliche Ausmaß an Elend auf der Welt erst so richtig bewusstgeworden. Teilweise auch unabhängig von Assange, denn die Auseinandersetzung mit ihm hat meine Interessen in andere Richtungen gelenkt. Ich lese andere Bücher als früher und sehe andere Dokumentationen als früher. Sie sind alle nicht gerade erheiternd. All die Autoren und Filmemacher haben viel zu erzählen. Sie tragen Wissen auf ihren Schultern, das schwer ist, und ich finde, wir sind es ihnen schuldig, es mit ihnen gemeinsam zu tragen.
Auch das Wissen, welches Chelsea Manning auf ihren zierlichen Schultern getragen hatte, war schwer, und sie teilte es mit Julian Assange, welcher es mit uns allen teilte. Und wir müssen ihnen und anderen Menschen wie ihnen dankbar sein, sie beschützen und an ihrer Seite stehen, weil nur so die Welt besser werden kann.
Ich zitiere gerne Christoph Sieber, dessen Beitrag ich schon in Teil 7 geteilt habe:
„Wollen wir alles wissen? Wollen wir mit der Realität konfrontiert werden? Wollen wir erfahren, dass im Krieg Unschuldige sterben, Kinder, Alte, Männer, Frauen? Ich würde gerne alles wissen, das ganze Elend der Welt, weil man nur was ändern kann, wenn man weiß was schiefläuft. Und weil ich nicht will, dass Staaten und Kriegsherren damit durchkommen, wenn sie aufs Völkerrecht pfeifen. Und weil der alte Tucholsky Recht hatte: Derjenige, der auf den Schmutz hinweist, ist nicht der, der den Schmutz macht.“
Diese Worte spricht er ganz am Ende seines Beitrags, und weil dieser so gut ist, verlinke ich ihn gerne noch einmal.
Teil 7: Die Medien werden lauter – lohnt es sich, doch wieder Hoffnung zu haben?
Teil 3: Leon Panetta lacht über Menschenrechte
Teil 2: Assange ist ein Folteropfer – Erkenntnisse eines UN-Sonderberichterstatters
Teil 1: Wissen oder Nichtwissen? Wie der Fall Julian Assange mein Weltbild verschlechtert hat