Der ARD-Film „Die USA gegen Julian Assange“
Im September 2020 sah ich die gerade erschienene ARD-Doku „Die USA gegen Julian Assange“ von Elena Kuch und Robert Holm. Ein wirklich interessanter Film, in dem man Julian Assanges Familie und seine Anwälte kennenlernt, einen Rückblick auf die Geschehnisse seit 2010 erhält und verschiedene Einschätzungen der Situation erhält.
Die Reporter erklären nochmal, was es mit der Vergewaltigungsgeschichte auf sich hatte. Holger Stark von der Zeit beschreibt den Einfluss von WikiLeaks auf den heutigen Journalismus und wie das, was Assange von den USA vorgeworfen wird, „Brot und Butter“ des Journalismus sei. Edward Snowden ist sogar mal wieder vor der Kamera und wundert sich, warum Julian viel weniger öffentliche Unterstützung bekommt als er selbst. Auch Nils Melzer wird befragt und erklärt Assange im ARD zum Folteropfer. Schade nur, dass der Film nie zur Primetime im Fernsehen lief und dass die Erkenntnisse daraus dann in den großen Formaten wie der Tagesschau doch nie Erwähnung fanden.
Man erhält einen Überblick darüber, was über die Afghanistan- und Irakkriege durch WikiLeaks enthüllt worden ist, man sieht die Schlagzeilen von damals, die von 100 000den Toten im Irak berichten.
Und dann kommt Leon Panetta vor die Kamera, Ex-Chef der CIA und amerikanischer Verteidigungsminister unter Barak Obama in den Jahren 2011 – 2013, und redet von der Wahrung von Staatsgeheimnissen, als seien die Toten vollkommen irrelevant.
Dies ist die Englische Fassung des Films, online gestellt vom offiziellen ARD-Account
Dies ist ein etwas verkürzter Reupload der deutschen Originalfassung. Leider kann ich sie momentan ansonsten weder auf YouTube, noch in der Mediathek finden.
Die Totalüberwachung eines Menschen findet der Ex-Geheimdienstchef total witzig
Man erfährt außerdem, dass Julian Assange und alle Menschen, die ihn in der Botschaft besucht haben, in den letzten Jahren während seines Aufenthalts in der Botschaft Ecuadors allumfassend überwacht worden sind. Alle Gespräche sind aufgezeichnet worden. Die persönlichen Gegenstände der Besucher, wie ihre Handys mitsamt ihren Daten, sind durchsucht worden. Wie es aussieht, hatte Julian Assange am Ende so gut wie keine Privatsphäre mehr. Aber die Privatsphäre erscheint uns nicht nur rein intuitiv als extrem wichtig, sie ist auch ganz offiziell ein Menschenrecht.
Darauf angesprochen, muss Leon Panetta lachen und erklärt: „Das überrascht mich nicht. Im Geheimdienstbusiness geht es eben darum, so viele Infos wie möglich zu sammeln – egal wie.“
Ganz am Ende des Films kommt Leon Panetta noch einmal zu Wort: „Er sollte bestraft werden. Man kann nur hoffen, dass etwas gegen diese Leute getan wird, die so etwas veröffentlichen. Und dass man ein Exempel statuiert, damit andere nicht das Gleiche tun.“
Scheiß auf Menschenrechte und taste nie das an, was ein Staat als geheim deklariert – ist das das Weltbild der Politiker und Geheimdienstler?
Ich habe mir die Äußerungen Leon Panettas mehrmals angesehen, weil ich nicht fassen konnte, was er da sagt. Denn letztendlich ist der Ex-Geheimdienstchef und ehemalige hohe Politiker ja der Meinung, dass Geheimdienste und Staaten alles dürfen und keine Rücksicht auf Menschenrechte zu nehmen brauchen.
Totalüberwachung von Menschen? Allumfassendes Eindringen in ihre Privatsphäre? Kein Problem, schließlich „geht es eben darum, so viele Infos wie möglich zu sammeln – egal wie.“
Aber wehe, jemand dreht den Spieß um und publiziert das, was der Staat lieber geheim halten möchte. Was aber die Öffentlichkeit durchaus etwas angeht, weil es all das auf den Kopf stellt, was ihr von staatlicher Seite erzählt worden ist. Dann geht das gar nicht, dann muss man bestraft werden.
Und hier, also bei den WikiLeaks-Veröffentlichungen, geht es eben nicht um Gespräche mit Anwälten und Psychologen oder schlicht das Privatleben irgendwelcher Menschen, sondern um Kriegsverbrechen und um Tausende tote Zivilisten in Kriegen, die uns immer als saubere militärische Einsätze zu demokratisierenden und humanitären Zwecken verkauft worden sind. Und Panetta sagt, es müsse etwas gegen „diese Leute getan werden, die so etwas veröffentlichen.“
Und was soll das überhaupt, den tausendfachen Tod von Menschen ganz schlicht als „so etwas“ zu bezeichnen?
Ich hab meinem Mann diese Aussagen gezeigt und er meinte: „Er Typ lebt komplett in seiner eigenen Welt.“ Das wäre ja nicht weiter schlimm, wenn er irgendeine Person X ohne Einfluss wäre. Aber er war Geheimdienstchef und Verteidigungsminister. Denken die da alle so? Ist das die abgehobene, ja menschenfeindliche Weltanschauung der Leute in der Politik und in den Gemeindiensten? Da läuft einem doch ein eiskalter Schauer über den Rücken, oder?
Was ist, wenn der Krieg zu uns kommt? Und an uns Kriegsverbrechen verübt werden? Die Verantwortlichen machen einen Stempel „geheim“ drüber und dann hat sich das erledigt? Gibt es dann für die Mächtigen dieser Welt überhaupt noch einen Anlass, Kriegsverbrechen möglichst zu vermeiden und sich, ganz unabhängig von Kriegen, an die Einhaltung der Menschenrechte zu halten?
„Er ist die institutionalisierte Kriminalität schon so gewohnt, dass er sie gar nicht mehr als problematisch wahrnimmt“ – Nils Melzer über Leon Panetta
Etwa ein halbes Jahr, nachdem ich die Doku gesehen hatte, war Nils Melzers Buch über den Fall Assange erschienen. Dort schreibt auch Herr Melzer über das besagte Interview mit Leon Panetta und zitiert seine Aussagen. Erleichtert habe ich beim Lesen festgestellt, dass ich wenigstens nicht verrückt zu sein scheine, wenn mich Panettas Aussagen so erschrecken. Dass Herr Melzer als UN-Mitarbeiter meine Eindrücke teilt.
Er schreibt in seinem Buch „Der Fall Julian Assange“ auf Seite 211/212: „Leon Panetta (…) zeigt sich anlässlich eines ARD-Interviews aufrichtig amüsiert über Assanges Überwachung in der Botschaft (…). Es ist derselbe Panetta, der gleichzeitig Assange und WikiLeaks für das Sammeln ´möglichst vieler Informationen´ als kriminell verurteilt (…). Und das, obwohl WikiLeaks seine Informationen eben gerade nicht durch unrechtmäßige Methoden gesammelt hat. Keine Abhöraktionen, kein Datendiebstahl, kein Hacking und schon gar keine Folter. Ganz im Gegensatz zu den staatlichen Geheimdiensten, die für solche Rechtsbrüche routinemäßig straflos ausgehen. Panettas herzliches Lachen und die geradezu atemberaubende Selbstverständlichkeit seiner Aussagen lassen an seiner Ehrlichkeit keinen Zweifel aufkommen. Er ist die institutionalisierte Kriminalität schon so gewohnt, dass er sie gar nicht mehr als problematisch wahrnimmt. Er weit verbreitetes Phänomen unter den Mächtigen und Privilegierten dieser Welt.“
Atemberaubende Selbstverständlichkeit. Danke, Nils Melzer. Genau das war es, das mir den eiskalten Schauer über den Rücken laufen ließ, ich hätte es nur so nicht formulieren können. Die atemberaubende Selbstverständlichkeit, mit der Geheimdienste und Staaten alles dürfen und bereit sind, Menschenrechte vollkommen außer Kraft zu setzen.
Teil 2: Assange ist ein Folteropfer – Erkenntnisse eines UN-Sonderberichterstatters
Teil 1: Wissen oder Nichtwissen? Wie der Fall Julian Assange mein Weltbild verschlechtert hat