US-Soldaten im Afghanistan-Krieg

Michael Lüders war einst ein gefragter Gast in TV-Talkshows und Nachrichtensendungen. Man findet im Internet noch zahlreiche Auftritte von ihm zum Beispiel bei einer Nachrichtensendung von Phoenix (2017), bei Markus Lanz (2020), SRF Kultur (2014) oder Beckmann (2013).

Doch seit wenigen Jahren wird Michael Lüders spürbar weniger eingeladen. Den Grund kann man nur vermuten, aber es ist naheliegend, dass er deshalb kaum noch auf den Gästelisten zu finden ist, weil er im Fernsehen Dinge sagt, die unsere Medien nur ungerne verbreitet wissen möchten. Denn der Wissenschaftler und Publizist ist sehr NATO- und USA-kritisch und macht bei der üblichen Feindbild-Bildung (Assad, Taliban, Putin, etc.) im Fernsehen nicht mit. Und dabei hat er auch noch schlüssige, unaufgeregte Argumente.

Herr Lüders war jahrelang der Nahost-Korrespondent der Wochenzeitung DIE ZEIT und ist heute Präsident der Deutsch-Arabischen Gesellschaft. Er hat zahlreiche Bücher über verschiedene, den Nahen Osten betreffende Themen geschrieben. In seinem dieses Jahr (2022) erschienen Buch Hybris am Hindukusch klärt Michael Lüders die Frage, warum die NATO im Afghanistankrieg scheiterte und beschreibt, welche Zerstörungen und Traumata die NATO-Länder in dem Land hinterließen, welches auch vorher schon kriegsgebeutelt am Boden lag und warum die Taliban im August 2021 kampflos wieder die Macht in Kabul übernehmen konnten.

Michael Lüders – Hybris am Hindukusch. Wie der Westen in Afghanistan scheiterte. Erschienen 2022 im C.H.Beck-Verlag.

Afghanistan: Ein Land, geprägt von Krieg und Zerstörung

Auf den ersten 50 Seiten des insgesamt 200 Seiten langen Buches befasst sich Michael Lüders mit der Lage in Afghanistan, bevor die USA dort unter dem Deckmantel des „Kriegs gegen den Terror“ nach 9/11 einmarschierten und zahlreiche NATO-Verbündete ihnen folgten.

Im 19. Jahrhundert führte das British Empire gegen Russland das sogenannte „Great Game“, einen geopolitischen Wettkampf um die Macht und den Einfluss in Zentralasien. Großbritannien, welches damals Indien beherrscht hatte, wollte seine Macht dort vor russischem Einfluss beschützen. Und da Afghanistan genau zwischen ein Einflusssphären der Weltmächte lag, wurde es zum Austragungsort und Opfer des Machtkampfes.

1979 marschierte die Sowjetunion in Afghanistan ein. Schließlich besiegten Guerillakämpfer, von den USA mit Waffen beliefert, die Sowjetunion nach einem 10 Jahre langen, grausamen Krieg mit Hunderttausenden von Toten. Man erfährt außerdem, aus den Worten des US-Geostrategen Zbigniew Brzezinski, vom Autor wörtlich zitiert, welche Rolle die USA bei den Kriegsursachen spielte (S.46).

Michael Lüders beschreibt auch, wie der westliche Fortschritt sich in Afghanistan niemals wirklich durchsetzen konnte, weil er einerseits den in Stämmen lebenden Afghanen von oben herab von westlich orientierten Königen aufzuzwingen versucht wurde (zum Beispiel, indem den Stammesführern das Barttragen verboten wurde) und sich aber andererseits, wenn es um die Verbesserung der Lebensverhältnisse ging, auf das Zentrum Afghanistans, Kabul, beschränkt hatte. Es gab keine Bestrebungen danach, Bildung, soziale Gerechtigkeit oder eine Infrastruktur in die restlichen Gebiete des Landes zu tragen.

Michael Lüders stellt sein Buch „Hybris am Hindukusch. Wie der Westen in Afghanistan scheiterte“ vor.

Der NATO-Einsatz in Afghanistan: 20 Jahre voller Massaker

Unsere Politiker und Medien verkaufen uns den Afghanistankrieg gerne als sauberen, „militärischen Einsatz“, der zugunsten der afghanischen Bevölkerung ausschließlich gegen frauenfeindliche, religiös-fanatische Terroristen geführt wurde. In Michael Lüders‘ Buch erfährt man zahlreiche in der Öffentlichkeit kaum bekannte Tatsachen, die dieses Narrativ absurd erscheinen lassen.

Ein paar Beispiele, die mir als besonders schrecklich in Erinnerung geblieben sind:

  • Nach dem Zusammenbruch der Taliban-Herrschaft 2002 boten mehrere Taliban-Kämpfer an, ihre Waffen niederzulegen und die neue Regierung in Afghanistan anzuerkennen (eine Niederlage anzunehmen gehört zum Wertekodex der Taliban). Die Reaktion der neuen Regierung und der USA: Gefängnis und Folter für die Kapitulierenden (vgl. S.89)
  • Weil G.W. Bush und seine Regierung anfangs darum bemüht waren, sich bei der afghanischen Bevölkerung beliebt zu machen, ließen sie kleine Lebensmittelpäckchen in ländlichen Gebieten verteilen. Diese Päckchen wurden einfach aus den Flugzeugen geworfen und die Afghanen konnten sie aufheben. Leicht zeitversetzt wurden Streubomben über Afghanistan abgeworfen, deren kleinste Bestandteile fast genauso aussahen wie die Lebensmittelpäckchen. Wer sie aufhob, wurde zerfetzt (vgl. S.95)
  • Im November 2001 hatten sich etwa 3000 Taliban-Kämpfer einer mit den USA kooperierenden usbekischen Miliz ergeben. Die Taliban wurden in Container gezwungen, angeblich zum Abtransport ins Gefängnis. Doch niemand brache die Leute ins Gefängnis, sie wurden einfach in der Hitze stehen gelassen, bis sie erstickt und verdurstet waren. Die US-Regierung hatte alle Versuche, dieses Massaker untersuchen zu lassen, blockiert. (vgl. S.105/106)
  • Das Massaker von Haska Mayna, als eine ganze dörfliche Hochzeitgesellschaft – 47 Frauen und Kinder – von Kampfflugzeugen einfach komplett niedergeschossen worden war. Warum? Weil die Afghanen, wenn sie heiraten, Freudenschüsse in die Luft abgeben. Dazu noch Michael Lüders‘ Anmerkung, dass es in den 20 Jahren des Afghanistan-Krieges kaum ein paar Wochen gab, ohne dass Hochzeitsfeiern massakriert wurden (S.131).

Auch legt Herr Lüders ausführlich dar, wie unsere Medien und Politiker während des Krieges mit ebendiesem umgegangen sind und welchen Skandal und welche medialen Diffamierungen es gegeben hatte, wenn jemand es gewagt hatte, das Narrativ des sauberen, humanitären Militäreinsatzes (nicht Kriegs, natürlich nicht) infrage zu stellen. (Es war übrigens 2010 Theodor zu Guttenberg, der zum ersten Mal dann doch das Wort „Krieg“ im Zusammenhang mit Afghanistan benutzte.)

Außerdem erfährt man viel über die Machtbestrebungen und kühlen geopolitischen Strategien der US-Politik. Zum Beispiel, dass das eigentliche Kriegsziel der USA von Anfang an der Irak gewesen war, die Regierung aber – trotz Bemühungen seitens der CIA, welche zu finden – keine Verbindungen zwischen Saddam Hussein und den Terroranschlägen von 9/11 herstellen konnte. Und deshalb musste zunächst Afghanistan „dran glauben“ (obwohl kein einziger Afghane irgendetwas mit den Terroranschlägen zu tun gehabt hatte. Die Taliban hatten dem Saudi-Araber Osama bin Laden lediglich Unterschlupf gewährt).

Die Taliban – nichts als Unmenschen, Terroristen, Mörder?

Ich war gespannt darauf, in Michael Lüders‘ Buch etwas darüber zu erfahren, was die Taliban eigentlich für Menschen sind. Ich glaube nicht an das reine Böse und konnte mit den offiziellen Darstellungen der Taliban nie etwas anfangen.

In „Hybris am Hindukusch“ lernt man viel über die Taliban als gesellschaftliche Gruppierung. Man lernt ganz sicher nicht, sie zu lieben, aber man lernt, sie als pakistanische und afghanische Menschen, sowie ihren Erfolg zu verstehen. Sie haben, bei aller (aus unserer Sicht) Rückständigkeit, ein paar sympathische Werte. Die interessanten Quintessenzen, die ich aus Herrn Lüders‘ Buch gezogen habe, sind:

  • Erstens: Die Taliban existiert, weil viele Menschen in Afghanistan und Pakistan extrem arm sind. Religiöse Schulen, die sog. Madrasas, aus welchen dann die Taliban-Kämpfer rekrutiert werden, sind für viele Familien die einzige Möglichkeit, ihren jungen Söhnen eine gewisse materielle Stabilität zu bieten, denn dort bekommen sie kostenlos Essen, Kleidung und ein Dach über dem Kopf. Dafür werden sie halt religiös indoktriniert (vgl. S. 51).
  • Zweitens: Die Taliban interessiert sich nicht für den Rest der Welt. Sie möchte den Islam nicht in die Welt tragen, sondern einfach nur Afghanistan beherrschen, bzw. Afghanistan und Teile von Pakistan. Die Taliban gehören überwiegend der Volksgruppe der Paschtunen an und hätten am liebsten ihr eigenes „Paschtunistan“.
  • Drittens: Dort, wo die Taliban die Macht innehalten – ob uns das im Westen gefällt oder nicht – genießen sie eine breite Zustimmung bei der Bevölkerung. Und warum? Auch aufgrund der Armut und den katastrophalen Lebensbedingungen nach Jahrzehnten, die von Krieg und Zerstörung geprägt waren. Die Taliban hatten in den 1990er Jahren Stabilität und Sicherheit in der „kriegsgebeutelten Bevölkerung“ geschaffen. Mit der ersten Machtergreifung der Taliban konnten Menschen zum ersten Mal wieder auf die Straße gehen, ohne Angst zu haben, das vielleicht nicht zu überleben. Außerdem haben die Taliban unseren westlichen Politikern – zumindest bis jetzt – laut Michael Lüders etwas voraus: Sie sind nicht korrupt (vgl. S.56).

Fazit: Zynismus als Selbstschutz

Ein Journalist eines deutschen Mediums hat über „Hybris am Hindukusch“ von Michael Lüders mal geschrieben, der Autor wisse zwar viel, aber hätte einen sehr zynischen Tonfall, welcher beim Lesen störend sein könnte. Leider finde ich die Rezension nicht mehr, um sie zu verlinken. Nun, der Journalist hat wohl gewissermaßen Recht: Herr Lüders schreibt bisweilen zynisch. Aber wie man sonst psychisch mit den Dingen, die er weiß und mit der Welt teilt, umgehen soll, wenn nicht mit Zynismus, weiß ich auch nicht. Vor allem, weil die Aufarbeitung des Afghanistan-Krieges, die Michael Lüders auch in seinem Buch fordert, ja bislang einfach ausbleibt.

Entweder, um die westliche Propaganda des humanitären Einsatzes weiterhin aufrecht zu erhalten oder weil die Redakteure nicht die Lust und Zeit haben, sich mehr mit der Thematik auseinanderzusetzen, wird bis heute medial überwiegend behauptet, der Westen hätte in Afghanistan viel Gutes bewirkt. Oder man redet einfach gar nicht mehr drüber. Für das Volk ist es am einfachsten, das einfach zu glauben. Und so sind am Ende alle zufrieden und man kann weiterhin die NATO gut und friedliebend finden, ohne zu wissen, was sie eigentlich macht. Wie soll man da nicht zynisch werden? Mir selbst haben Herrn Lüders zynische, teils bissige Kommentare auf jeden Fall geholfen, mit den bitteren Inhalten des Buches zurechtzukommen.

„Hybris am Hindukusch“ ist interessant, lehrreicht und deshalb lesenswert. Aber man muss halt damit zurechtkommen, viel über blutige Massaker, menschliches Leid, Korruption und (Wahl-)Betrug zu lesen. Dafür kann Herr Lüders nichts, das war der Westen mit seinen Verbündeten. Auch wenn uns das nicht schmeckt.

Michael Lüders über die Machtergreifung der Taliban im August 2021.

Hinweise zum Beitragsbild: Quelle: Wikipedia. Soldaten der U.S. Army im Gefecht mit Kämpfern der Taliban in der Provinz Parwan, 2007. Veröffentlicht von der U.S. Army. Gemeinfrei.

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