oder: Warum wir ein Umdenken in der Arbeitsgesellschaft brauchen
Die Überschrift dieses Artikels mag ein wenig provokant klingen, auf Krawall gebürstet anstatt auf Dialog und Verständnis. Ich habe überlegt, sie wieder zu ändern, aber ich lasse sie so, wie ich sie auf dem Höhepunkt meiner Wut formuliert habe. Meinen Text selbst aber versuche ich so sachlich wie möglich zu formulieren.
Ein gewisses Thema macht mich einfach wütend, und ich habe die Wut ganz tief in meinem Bauch gespürt, als ich mir die Reaktionen auf die Videobotschaft einer jungen Frau aus den USA angesehen habe, die, erschöpft von ihrer neuen Vollzeitanstellung, frustriert die Arbeitsgesellschaft kritisiert. Der Focus berichtete darüber und zahlreiche Menschen kommentierten den Focus-Artikel. Ihre Texte waren geprägt von Häme und Spott gegenüber der jungen Frau, und vor allem von ganz viel Duckmäusertum gegenüber der Arbeitsgesellschaft und ihren menschenfeindlichen Strukturen. Und das fand ich zum Haareraufen. „Ihr seid doch alle kapitalistische Arbeitssklaven“, hab ich mir gedacht. „Ihr lasst euch ausbeuten, arbeitet euch krank und seid auch noch stolz drauf!“
Aber der Reihe nach.
„Die Arbeit setzt dich unter Druck und dann streitest du, was eigentlich völlig unnötig wäre“
Letzten Sommer, im Jahr 2023, saß ich mit einer älteren Nachbarin auf dem Spielplatz. Sie hat auf ihr Enkelkind aufgepasst, welches bei ihr aufwächst und wohnt, ich auf meine Töchter. Und wir haben über ihren Ehemann gesprochen, der einige Monate zuvor an einer Krebserkrankung verstorben war. Es war ein Gespräch, das mir zu denken gegeben hat.
„Wie geht’s dir, ohne ihn? Fehlt er dir sehr?“, habe ich gefragt.
„Naja, man kommt zurecht. Aber ja, er fehlt mir. Wenn man so lange zusammen war, bleibt einfach eine große Lücke zurück.“
„Wie lange wart ihr eigentlich zusammen?“
„38 Jahre. Und wir hatten gute Momente, und auch schlechte Momente. Aber wenn ich es mir so recht überlege…es hätte meistens schön sein können, wenn nur die Arbeit nicht gewesen wäre. Die Arbeit stresst dich und setzt dich unter Druck, und dann streitest du, was eigentlich völlig unnötig ist. In den letzten Monaten, bevor er gestorben ist, dachten wir noch, dass er es schafft. Aber er war dann zuhause und wir haben ganz viel Zeit miteinander verbracht. Wir haben auch die Kleine öfter zuhause behalten und nicht in den Kindergarten geschickt, und dann waren wir einfach zusammen, nur wir drei, und es war wirklich schön. Er hat sich das gewünscht, er hat gesagt, ‚lass doch die Kleine zuhause, wir können zusammen einen Film schauen‘ und dann haben wir das gemacht. Ich glaube, er hat gespürt, dass er sterben wird, und wollte die Zeit nutzen.“
Mich hat diese Einsicht meiner Nachbarin zutiefst gerührt. Es war, als sei es ihr nach dem Tod ihres Mannes wie Schuppen von den Augen gefallen, was eigentlich wichtig ist – Zeit füreinander zu haben – und wie viel Schaden zu viel Erwerbsarbeit in unseren sozialen Beziehungen anrichten kann. Ich kannte ihren Mann, der kurz vor dem Renteneintritt Krebs bekommen hat und gestorben ist. Er war ein liebevoller Opa, der oft mit seiner Enkelin auf dem Spielplatz war. Ansonsten war er eigentlich fast immer in der Arbeit – wie so viele andere Männer und so viele andere Frauen auch. So ist halt das Leben, sagen viele, was solls. Aber die junge Frau Brielle Asero hat das, worauf meine Nachbarin bedauernd zurückblickt, gleich ganz am Anfang ihres Arbeitslebens angeprangert.
Das Video von Brielle Asero
Ausschnitte aus dem Video von Brielle sieht man in dem Focus-Artikel, in welchem ich mir auch die Kommentare durchgelesen hab: Gen-Z-Influencerin bricht nach vollem 8-Stunden-Arbeitstag in Tränen aus
Die 21jährige junge Frau hat gerade ihren ersten Vollzeitjob angenommen und beklagt unter Tränen, dass sie um 7:30 das Haus verlässt und erst um 18:15 wieder zuhause ist, also faktisch den ganzen Tag in der Arbeit ist, inklusive Arbeitsweg, der etwa 2 Stunden in Anspruch nimmt. Wenn sie zuhause ist, hat sie weder die Zeit, noch die Energie, um noch irgendetwas zu tun.
„Also ich arbeite noch viel mehr! So ist das Leben! Die verzogene Göre soll nicht herum heulen!“ Die Userreaktionen in Focus auf den Artikel über Brielle Asero
Als ich in den Kommentarbereich des Fokus geschaut habe, konnte ich meinen Augen kaum trauen. Was ist denn da bitte los? So viel Hass, Häme und Aggression gegenüber der jungen Frau, und so viele Loblieder auf das harte Leben voller fleißiger Arbeit. Und Fatalismus: So ist das Leben nun einmal. Kein Grund zum Jammern.
Hier nur eine kleine Auswahl an Kommentaren. In diese Richtung gingen beim Focus etwa 90 % aller Nutzerreaktionen:
Wäre ich ein reicher Arbeitgeber aus irgendeinem Konzern oder sonst irgendein sehr privilegierter Mensch, der davon profitiert, dass Millionen von Menschen einen riesigen Teil ihrer Lebenszeit für Erwerbsarbeit abgeben müssen, müsste ich mich bei diesen Kommentaren kaputt lachen oder würde mir alternativ stolz auf die Schulter klopfen:
- Geil, man beutet sie aus und die sind auch noch stolz darauf, wie fleißig sie arbeiten. Dumm, aber gut für mich! Oder
- Ja, der Mensch scheint die lange und schwere Arbeit ja zu brauchen, das macht ihn stolz und dadurch definiert er sich. Dann machen wir ja alles richtig. Man kann die Arbeitszeiten ruhig noch ein wenig verlängern und die Löhne noch ein wenig kürzen – dann fühlen sich die Menschen noch fleißiger. Super! Win-Win-Situation für alle!
Aber ich bin kein Konzernboss, ich lebe hier inmitten dieser Arbeitsgesellschaft und als ein Teil von ihr bin ich total davon abhängig, wie meine Mitmenschen drauf sind. Und ein Wandel hin zu einem menschenfreundlicheren Arbeiten ist ja mit Menschen solcher Einstellungen völlig utopisch und in unerreichbarer Ferne. Und deshalb haben mich die Reaktionen wütend gemacht, und zudem war ich frustriert und auch traurig. Echt jetzt, liebe Mitmenschen? Meint ihr nicht vielleicht, dass Brielle doch irgendwie Recht hat, auch wenn sie jünger sein mag als ihr und noch nicht so viel „Lebenserfahrung“ hat? Ich finde, sie hat vollkommen Recht. Und gerne begründe ich auch, warum.
Warum Brielle meiner Meinung nach vollkommen Recht hat
Die typische 40-Stunden-Woche beansprucht an fünf Tagen in der Woche weitgehend den ganzen Tag eines Menschen.Wer keinen oder nur einen sehr kurzen Arbeitsweg hat, hat das Glück, noch eine oder zwei Stunden mehr zu haben, aber trotzdem sind 8 Stunden eine gewaltige Menge Wachzeit für einen Tag, die man in die Erwerbsarbeit investiert.
Ich selbst habe zwei Tage in der Woche, die mit 8 oder mehr Stunden Erwerbsarbeit gefüllt sind. Diese Tage fallen für andere Tätigkeiten komplett weg. Das Familienleben ist stark reduziert, ich sehe meinen Mann und meine Kinder nur morgens und abends, wenn überhaupt. Abends schlafen die Kinder meist schon, wenn ich nach Hause komme. Im Haushalt oder im Garten was machen, sich ehrenamtlich engagieren, meine Großeltern besuchen oder Freunde treffen ist an diesen Tagen völlig undenkbar. Aber es sind ja nur zwei Tage und es bleiben fünf weitere Tage, wo ich anders oder gar nicht arbeite und somit Zeit bleibt für das Leben abseits der Erwerbsarbeit.
Kontakte mit Freunden und Familien reduzieren sich häufig auf wenige Stunden pro Jahr
Ich habe kaum eine Chance, meine Freunde, die Vollzeit arbeiten, jenseits des Wochenendes zu sehen, es sei denn, sie haben Urlaub. Dadurch reduziert sich die Zeit, die ich mit den Vollzeit arbeitenden Freunden verbringen kann, auf wenige Stunden pro Jahr, also etwa zwei bis drei Nachmittage. Ist das nicht bemerkenswert, wenn man das mal so ausgeschrieben sieht, dass eine Erwachsenenfreundschaft in vielen Fällen nicht mehr gepflegt werden kann als wenige Stunden im Jahr? Es seit denn, man hat nur ein oder zwei gute Freunde, die man jedes Wochenende sieht. Muss man aber die Zeit aufteilen zwischen verschiedenen Freunden, die in verschiedenen Lebensphasen ins Leben gekommen sind, sind eben nicht mehr drin als ein paar Stunden im Jahr. Bei mir ist das leider Realität. Und ich trauere um die verlorene Zeit. Ich würde sie lieber viel öfter sehen.
Ähnlich sehe ich das mit älter werdenden Eltern und Großeltern. Für sie ist im Leben vieler Vollzeit arbeitender Menschen in der sogenannten „Rushhour des Lebens“ häufig einfach kein Platz und die persönlichen Begegnungen reduzieren sich auf Geburtstage, Weihnachten und ähnliche Feiertage. Bis man sich dann am Ende freinehmen muss wegen der Beerdigung.
Das Ehrenamt stirbt aus und man stellt gemeinsam nichts mehr auf die Beine
Jeder findet es toll, wenn jemand ein Ehrenamt bekleidet und sich so für die Belange der Allgemeinheit einsetzt, aber die Zeit dafür haben die meisten Menschen nicht. Klar, wo soll die auch herkommen, wenn man von früh bis spät arbeiten geht. Die WELT nennt das den „neuen Egoismus“, aber das finde ich nicht fair. Weiter unten im Artikel kratzt der Autor dann doch noch an, was wirklich geschehen ist:
„Es fehlen unter anderen die vielen Hausfrauen aus bürgerlichen Familien, die sich dereinst oft nur zu gern engagierten, sobald die Kinder aus dem Gröbsten raus waren. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Es gibt schlicht weniger von ihnen, weil immer mehr Frauen arbeiten. Allein in den vergangenen 20 Jahren stieg die Erwerbsbeteiligung von Frauen in Deutschland von unter 60 auf fast 75 Prozent.“
Genau, natürlich. Viele Menschen, die Zeit und einen passablen Lebenstandard haben, sind bereit, ein Ehrenamt zu übernehmen. Wem es gut geht, der teilt sein Lebensglück eher mit anderen und gibt der Gemeinschaft etwas zurück. Wer aber abends müde aus der Arbeit kommt und nur noch das Wochenende hat, um das Leben mit anderen Aktivitäten zu füllen, oder arbeitslos und deswegen arm ist, macht das natürlich nicht. Das ist doch logisch und keineswegs egoistisch. All die anderen Gründe aus dem Artikel finde ich an den Haaren herbei gezogen – Social Media soll wichtiger sein als das Ehrenamt? Klar, weil du nach der Arbeit auf der Couch sitzen und durch Instagram scrollen kannst, um dich auszuruhen. Ein Ehrenamt kostet Energie.
Ich finde diesen Kommentar zu dem Artikel sehr aufschlussreich. Er sagt eigentlich alles aus, was ich mir dabei gedacht hab:
Als meine Kinder im Kindergartenalter waren, war ich im Elternbeirat des Kindergartens, der sich zu einem beträchtlichen Teil aus Hausfrauen und Frauen in Minijobs zusammengesetzt hat, und dann gab es noch zwei Freiberuflerinnen, mich und eine andere Frau, denn wir konnten unsere Arbeitszeiten mehr oder weniger flexibel gestalten. Es waren also zum sehr überwiegenden Teil Mütter, die nicht oder nur wenig erwerbstätig waren, die all die Kindergartenfeste auf die Beine gestellt haben, am Tag der offenen Tür die Stellung gehalten haben, die Kindergartengruppen auf Ausflügen mit Proviant versorgt haben und so weiter. Ohne sie hätten die Erzieherinnen alt ausgesehen und das wussten sie. Die meisten Eltern mit kleinen Kindern, die arbeiten gehen, liefern ihr Kind ab und weg sind sie, und für die Belange des Kindergartens gibt es bei ihnen keinen Platz, schließlich haben sie den Kopf und den Tag voll mit Arbeit. Das soll nicht vorwurfsvoll klingen, sondern traurig. Denn ohne freiwillige Eltern, die sich engagieren, ist der Kindergartenalltag viel weniger bunt und ereignisreich. Der Kindergarten wird für das Kind so zum Ersatzzuhause und nicht zur Bereicherung und Erweiterung des Familienlebens, was er eigentlich sein sollte. Zumindest war das immer das Selbstverständnis unserer Erzieherinnen, und mir und meiner Familie hat es den Kindergarten emotional viel näher gebracht, mit den Erzieherinnen im Team zusammen etwas auf die Beine zu stellen.
Kindergarten und Schule ist anstrengend: Wenn Eltern den ganzen Tag arbeiten, müssen auch Kinder den ganzen Tag „arbeiten“
In Familien, in denen beide Elternteile den ganzen Tag arbeiten (oder wo es nur ein einziges, Vollzeit arbeitendes Elternteil gibt) müssen Kinder in der Regel in die Betreuung. Erst in die Krippe, dann in den Kindergarten und dann nach der Schule in die Nachmittagsbetreuung.
Das ist anstrengend und eigentlich zu viel für kleine Menschen. Es überlastet sie und lässt zu wenig Zeit für freies, unbetreutes, kreatives Spielen. Das bestätigen viele Kinder (wenn sie bereits sprechen können) nicht nur selbst, wenn man sie darauf anspricht, sondern das hört man auch von allen Seiten von denjenigen, die die Kinder den ganzen Tag bei sich haben, also die Erzieher und die Pädagogen in der Nachmittagsbetreuung, sowie von Psychologen, zu denen dann die leidenden und gestressten Kinder geschleppt werden, wenn sie nicht mehr richtig funktionieren.
Kindererziehung verschiebt sich in den Bereich der Erwerbstätigkeit
Eine mir gut bekannte Erzieherin hat mir kürzlich völlig entnervt erzählt, dass sie überlegt, den Beruf zu wechseln, denn er sei heute mit damals, als sie in den 1990er Jahren angefangen hat, überhaupt nicht mehr zu vergleichen: Die Kinder sind den ganzen Tag da, die Eltern haben keinen Nerv dafür, sie zu erziehen und wissen überhaupt nicht, wie sie mit ihnen umgehen sollen. Alles wird wie selbstverständlich in die Hände der Einrichtungen gegeben. Der übertriebene Fokus auf Arbeit ist wahrscheinlich der Hauptgrund dafür: Ich muss arbeiten – um Kinder sollen sich bitte diejenigen kümmern, die dafür Geld bekommen. Somit wird die Kindererziehung aus dem privaten, freien und freiwilligen Bereich herausgehoben und in den den professionellen Bereich der Erwerbsarbeit verschoben. Dann hat sie immerhin einen volkswirtschaftlichen Sinn, nicht wahr? Aber fehlt der Erziehung so nicht die wichtigste Komponente, nämlich die Liebe zum Kind?
Bloß keine Zeit haben, um nachzudenken – sonst könnte man ja am System und am Elend der Welt verzweifeln und sich womöglich noch erheben, um etwas zu ändern
Wer Vollzeit arbeitet, braucht abends und am Wochenende irgendeinen entspannten Ausgleich, um sich ein wenig zu erholen, und dann geht’s ja recht bald wieder weiter. Sich wirklich Gedanken über den Zustand der Welt machen, tiefgründige Gespräche darüber führen, Probleme erkennen und über Lösungen nachdenken – all das ist umso schwieriger, je mehr man arbeitet und je weniger Zeit man im Leben für andere Dinge hat.
Ich merke das sehr intensiv in meinem Umfeld, dass es wahnsinnig schwer ist, sich über gesellschaftliche Missstände zu unterhalten oder den Menschen gar etwas zum Lesen zu empfehlen. In 95 % aller Fälle erhält man Reaktionen wie „dafür habe ich keinen Kopf“ oder „momentan fehlt mir die Zeit“ und keinerlei Rückmeldungen auf Leseempfehlungen außer mal dem vagen Versprechen, sich das in einem ruhigen Moment mal anzuschauen.
Und natürlich kann ich das auch verstehen – der Alltag ist stressig und dann kommt so eine Tante daher und möchte einem die kostbaren Pausezeiten mit irgendwelchen schwierigen Angelegenheiten und Themen wegnehmen. Ich bin da keinem einzigen Individuum böse deswegen. Aber als gesamtgesellschaftliches Problem frustriert es mich, weil es uns einfach daran hindert, das Leben für alle besser zu machen. Überspitzt gesagt: Jeder rennt in seinem eigenen Hamsterrad und schaut nicht rechts, nicht links.
Burn-Out, Depressionen, chronische Erschöpfung, Angstzustände – die Zivilisationskrankheiten der Arbeitsgesellschaft
Es ist ja geradezu absurd, wie viele Menschen in unseren westlichen Arbeitsgesellschaften psychische Erkrankungen haben. Man bekommt schon krasse Zahlen, wenn man nur kurz nach Stichworten wie Burn-Out, Angstzustände oder Depressionen in Suchmaschinen sucht. Und mein Umfeld macht mir deutlich, dass an diesen krassen Zahlen durchaus etwas dran sein muss.
Dass Menschen Antidepressiva einnehmen oder verschrieben bekommen, ist überhaupt nichts Ungewöhnliches mehr. Und das sogar schon ab dem frühesten Erwachsenenalter. Meine Mutter, die in einer Apotheke arbeitet, weiß da erschreckende Geschichten zu erzählen.
Das ist doch kein annehmbarer Zustand, dass wir die Menschen in einem System gefangen halten, das sie krank macht, und sie dann mit Medikamenten behandeln, damit sie das irgendwie ertragen können. Wenn ein Mensch mit bestimmten Strukturen nicht zurechtkommt, könnte es ja sein, dass es an ihm liegt. Aber wenn Millionen von Menschen damit nicht zurechtkommen – dann weist das doch schon sehr stark darauf hin, dass an den Strukturen etwas nicht in Ordnung sein könnte, oder nicht?
Entspannte und erholte Menschen machen weniger Fehler und erledigen ihre Aufgaben gewissenhafter
Manchmal frage ich mich: Leisten all diese Menschen, die so stolz darauf sind, dass sie anpacken, eigentlich gute Arbeit, oder sind sie einfach nur „in der Arbeit“, spüren am Abend ihre alltägliche Erschöpfung, die vertrauteste aller Empfindungen, und können dann scheinbar zufrieden so weitermachen wie immer schon?
Als einer der stressigsten Berufe überhaupt gilt der Pflegeberuf. Meine Tochter war als Baby schwer krank, und nach einer ihrer Operationen kam es zu einem fatalen Fehler durch eine Krankenschwester, die meines Eindrucks nach völlig gestresst und überarbeitet war. Sie hatte die Frühschicht und am Tag zuvor hatte sie die Spätschicht gehabt. Sie hatte also um etwa 22 Uhr das Krankenhaus verlassen und morgens um 7 Uhr war sie bereits wieder da. Es ist meiner Meinung nach völlig unverantwortlich, Menschen solchen Arbeitszeiten auszusetzen, die eine hohe Verantwortung für schwer kranke Kleinkinder und Babys haben. Sie hat dann versehentlich durch einen falschen Knopfdruck ein Medikament um das Zehnfache überdosiert und meine Tochter musste daraufhin wieder zurück auf die Intensivstation.
Am Ende ist alles gut ausgegangen, und von Seite des Krankenhauses aus wurde das ganze Thema unter den Tisch gekehrt. Das leichenblasse Gesicht der Krankenschwester hab ich noch immer vor mir, ebenso wie den erbärmlichen Anblick meines Kleinkinds, das schon auf dem Weg der Besserung war und plötzlich völlig apathisch im Bettchen lag und sich augenscheinlich sehr schlecht gefühlt hat. Wir als Familie und sie als Pflegekraft konnten am Ende froh sein. Aber wie viele Fälle wie solche gibt es? Und wie viele von ihnen gehen womöglich nicht so gut aus? Ich weiß darauf keine Antwort, aber ich möchte die Frage einfach mal zum Ende des Artikels in den Raum werfen. Ebenso wie die These, dass das ganz bestimmt nicht passiert wäre, wenn die Krankenschwester ausgeruht zur Arbeit gekommen wäre und Feierabend gehabt hätte, bevor sie völlig erschöpft war.
Verzerrter Eindruck in Social Media? Ich kenne sehr viele Menschen, die raus wollen aus dem Hamsterrad – oder sogar wirklich aussteigen
Ich kenne viele Menschen, die Vollzeit arbeiten. Einige von ihnen tun das gerne, bei anderen weiß ichs nicht. Da wird das womöglich einfach nicht infrage gestellt. Ich kenne aber auch viele Menschen, die sich eine geringere Wochenarbeitszeit wünschen und zunehmend Menschen, die eben das auch umsetzen. Sie nehmen Gehaltseinbußen in Kauf, bei diesen Leuten ist das finanziell möglich, zum Beispiel, weil sie keine Kinder haben, die sie finanzieren müssen, oder weil sie ihre Wohnung schon abbezahlt haben und keine Miete zahlen müssen. Ich kenne auch Menschen, die haben ihre Zelte in der westlichen Arbeitsgesellschaft abgebrochen und sind in andere Teile der Welt gegangen, wo sie zwar natürlich auch ihren Lebensunterhalt verdienen müssen, sich aber irgendwie freier fühlen.
Werfe ich einen Blick in Richtung der Mütter von Kindern, die tatsächlich noch Kinder sind, die ich so in meinem Leben um mich herum habe, schwindet die Anzahl an Vollzeitarbeitenden dramatisch. Vielleicht ist das unter alleinerziehenden Müttern wieder anders, aber die große Mehrheit der Mütter, die ich kenne, lebt in einer Partnerschaft. Sie arbeiten in Teilzeit, in Minijobs, flexibel als Freiberuflerinnen oder auch gar nicht – und mir fällt keine Mutter ein, die auf eine Vollzeitstelle wartet oder bedauert, dass sie keine hat. Sie machen das aus Überzeugung, weil es ansonsten keine Möglichkeit gibt, den Familienalltag abseits der Arbeit zu gestalten.
Ich frage mich, ob mein Eindruck verzerrt ist. Oder entsteht im Social Media ein verzerrter Eindruck? Wie kommt es, dass diese Focus-Community gar so geschlossen der Meinung war, die junge Frau, die die Arbeitsstrukturen unserer Gesellschaft kritisiert, sei verweichlicht und lächerlich? Ich weiß es nicht. Aber ich bin froh, dass für mich im echten Leben ein anderer Eindruck entsteht, nämlich, dass tatsächlich viele Menschen der Arbeitsgesellschaft, die das Leben der vergangenen Generationen geprägt hat, überdrüssig sind und sich nach etwas Neuem sehnen, das Raum und Zeit lässt, um ein Mensch zu sein.
Fazit: Dies ist kein Text gegen die Erwerbsarbeit, aber ein Plädoyer für eine Gesellschaft, die ihre menschlichen Bedürfnisse wieder entdeckt
Nur um das klar zu stellen: Ich bin gar nicht gegen Erwerbsarbeit. Ich persönlich habe sogar das Glück, von Herzen gerne erwerbstätig sein zu dürfen, denn beide meiner Tätigkeiten sind mehr als nur Broterwerb. Ich identifiziere mich damit, sie sind ein Teil von mir. Arbeitszeit ist für mich keine Zeitverschwendung, die ich so schnell wie möglich hinter mich bringen will. Aber dass sie mehr Raum als alles andere einnimmt, kann und will ich nicht zulassen. Ich werde nie verstehen, wie Menschen sich so weit von ihren menschlichen Bedürfnissen entfremden können, dass sie sich damit rühmen, dass sie die meiste Zeit ihres Lebens am Arbeiten sind und stolz verspüren, wenn ihnen die Zeit und die Energie fehlt für Dinge, die für uns Menschen eigentlich essenziell sind. Freundschaften und Beziehungen pflegen. Sich um die kümmern, die uns brauchen, wie unsere Kinder und unsere Alten. Kreativ sein. Sich um seine Gesundheit kümmern, mit frischem Essen, Bewegung, draußen sein. Allein sein und darüber nachdenken, wer man ist und wer man sein will.
Beitragsbild: Bild von 51581 auf Pixabay