Vielleicht gehen unsere Vorstellungen am Ende gar nicht so weit auseinander – doch Nathalie Klüver könnte mit ihrem Buch falsche Eindrücke erwecken
Nathalie Klüvers Buch zu lesen, ist mir stellenweise nicht leicht gefallen. Eine kinderfreundliche Gesellschaft wünsche ich mir so sehr, das ist mir ein dermaßen wichtiges Herzensanliegen, dass es mir wirklich wehgetan hat, zu lesen, dass eine Mutter sich eine kinderfreundliche Gesellschaft zumindest in manchen Punkten so extrem anders vorstellt als ich. Ich hatte manchmal Bauchschmerzen und habe beim Einschlafen noch lange über die eine oder andere Passage nachgedacht. Ich lese viel, und Nathalie Klüver hat es geschafft, mich wie schon länger keine Autorin mehr emotional zu berühren, wenn auch diesmal leider nicht gerade im positiven Sinn.
Ich bin trotzdem froh, dass ich das Buch zu Ende gelesen habe, denn in einer offenen Gesellschaft muss man abweichende Meinungen tolerieren, und das tue ich. Ich akzeptiere auch Nathalie Klüvers Bedürfnisse. Aber ich denke nicht, dass sie für die Mehrheit der Eltern in Deutschland spricht.
Frau Klüvers Forderungen kenne ich eher aus Politik und Wirtschaft
Ich kenne Nathalie Klüvers Ansichten und Forderungen gut. Aber nicht von Eltern, sondern aus der Politik, und natürlich aus der Wirtschaft, die – das kann keiner leugnen – einen gewaltigen Einfluss auf die Politik hat. Man muss die „stille Reserve“ für den Arbeitsmarkt aktivieren, also die Mütter mit kleinen Kindern. Man muss Eltern helfen, die Phasen der Nichterwerbstätigkeit zu überwinden. Man muss Kinder so früh wie möglich in die Welt schicken. Man muss in die Qualität des Humankapitals investieren, indem man die Kompetenzen von Kleinkindern fördert. All das habe ich schon gehört und gelesen, unzählige Male, aber eben nur extrem selten aus dem Mund oder der Feder einer echten, jungen Mutter, die selbst gerade dabei ist, Kinder großzuziehen. Vielleicht haben mich Teile dieses Buchs deshalb so erschüttert, weil es mir deutlich vor Augen geführt hat, dass man solche politischen Phrasen als Mutter oder Vater nicht nur abstoßend finden, sondern auch hinter ihnen stehen kann.
Die Mehrheit unserer Politiker würde Nathalie Klüvers Buch wohl bejubeln, sie würden sich bestätigt fühlen und sagen: Seht her! Die Eltern WOLLEN mehr arbeiten, sie WOLLEN mehr Kinderbetreuung! Wir betreiben also die perfekte Familienpolitik! Frau Klüvers kurze Passagen über die 4-Tage-Woche, eine 25-Stunden-Woche, über mehr Zeit mit den Kindern und darüber, dass wir weg müssen vom Leistungsdenken und der Profitorientierung, darüber, dass wir die „Rushhour des Lebens“ entschleunigen müssen, würden sie sicherlich überlesen und schnell vergessen, denn sie gehen unter angesichts der wiederholten Forderungen nach mehr Berufstätigkeit, mehr Betreuung – ganztags, über Nacht, einfach wann immer es geht, aber bitte nur nie ausschließlich durch die Eltern selbst – mehr Bildung und Förderung, mehr Verantwortungsübernahme durch den Staat.
Ich sehe großes Unbehagen bei den Eltern
Was die Eltern angeht, da glaube ich, versucht Frau Klüver etwas aufzuzwingen, womit sich sehr viele Menschen heute schon nicht wohlfühlen. Ich glaube, mein Bekanntenkreis ist sehr heterogen. Ich kenne Mütter mit Studienabschluss und Mütter ganz ohne Berufsabschluss, Doppelvollzeit arbeitende Eltern mit ganztägig betreutem Kleinkind und Alleinverdienerfamilien wo einer von beiden nicht arbeiten geht, obwohl die Kinder schon in die Schule gehen. Ich kenne Mütter, die wie Nathalie Klüver Journalistinnen sind oder Karriere im IT-Bereich machen, ich kenne aber auch Supermarktverkäuferinnen, Wurstverkäuferinnen, Frauen aus der Industrie und der Stadtverwaltung, Altenpflegerinnen, Krankenschwestern und Frauen, die beim Arzt am Empfang arbeiten oder vor den Kindern gearbeitet haben.
Von all diesen Menschen sehe ich nur wirklich wenige, die sich wohl damit fühlen, Kinder in Institutionen unterzubringen und dort erziehen zu lassen, egal in welchem Alter und wie lange, und ihre eigene Aufgabe hauptsächlich im Beruf zu sehen, während man sich um das Kind halt einfach nach Feierabend noch ein bisschen kümmert oder ein wenig „Qualitytime“ zusammen verbringt. Diese wenigen, die ich kenne, haben es gemeinsam, dass ihre Wurzeln in der Sowjetunion liegen, wo es zwar nicht verpflichtend war, seine Kinder allumfassend betreuen zu lassen, aber es wurde zumindest erwartet.
„In der Sowjetunion war es viel einfacher mit der Kinderbetreuung“, hat letzten Sommer eine Oma aus Russland zu mir gesagt, als wir zusammen auf dem Spielplatz saßen. Es hat sie geärgert, dass der Kindergarten ihres Enkels im August Sommerpause hatte. „Dort waren die Kinder einfach immer im Kindergarten, der hatte nie zu und war abends auch viel länger offen. Da konntest du ganz in Ruhe Vollzeit arbeiten und wusstest, deine Kinder sind im Kindergarten gut aufgehoben.“
Also, diese Positionen gibt es, ich will das nicht leugnen. Ich will auch diese Oma nicht diffamieren oder ihr unterstellen, dass sie deshalb ihren Enkel nicht liebt oder so. Es ist davon auszugehen, dass ihre eigenen Kinder die meiste Zeit im Kindergarten verbracht haben, als sie klein waren, und sie das nie infrage gestellt hat. Ich weiß selbst, dass das ganz normal war. Ich hab auch meine Wurzeln in der Sowjetunion, und auch meine Oma hat ihre Kinder montags bis mittwochs und donnerstags bis freitags im Kindergarten gehabt, um arbeiten zu können. Bezahlt von ihrem Arbeitgeber – was für ein familienfreundlicher Service! Dass es ihren Kindern gut getan hat, wage ich aus guten Gründen zu bezweifeln.
Aber bei den meisten anderen Menschen, ohne diesen speziellen Hintergrund, sehe ich Unbehagen, manchmal etwas offener, manchmal etwas subtiler. Aber es fühlt sich so an, als sei man einfach nicht so richtig glücklich damit, wie es in den letzten Jahren läuft – und dabei besuchen die meisten Kinder heute noch die Halbtagsschule, und die meisten Krippen sowie Kindergärten sind nur bis zum späten Nachmittag geöffnet.
Man spitzt die Ohren und hört es überall. Da bedauern Erzieherinnen „Manche Kinder sind länger bei uns als zuhause. Aber was sollen die Mütter denn sonst machen, wenn sie alleinerziehend sind?“ oder: „Wie unschön ist es, wenn ein Kind bis 17 Uhr bei uns bleiben muss. Das tut mir leid!“ Das klingt nicht gerade danach, als würde man sich für Eltern und Kind freuen, dass sie so lange arbeiten dürfen und das Kind so lange im Kindergarten bleiben darf. Ich hab auch schon eine Erzieherin mit den Augen rollen gesehen angesichts des Wortes „Förderung„: „Die brauchen nicht unsere Förderung, die brauchen und mehr Zeit mit ihren Eltern, die sich dann auch mit ihnen beschäftigen sollen.“
Und dann die Eltern. Man nimmt es so hin, all den Ausbau der Kinderbetreuung, man nimmt sogar die Plätze in Anspruch. Aber steht man wirklich dahinter? Oder würde man sich im Herzen anders entscheiden, wenn man die finanzielle Möglichkeit hätte oder es gesellschaftlich nicht so sehr erwartet werden würde? Ich habe Mütter zugeben hören, erfolgreich berufstätige Mütter mit in der Krippe betreutem Kind, dass sie das ganze System Krippe eigentlich ablehnen. Mir hat auch eine Mutter schon einmal erzählt, dass ihr Kind nachts aufwacht und sie anbettelt, nicht in den Kindergarten zu müssen, aber es gibt nun einmal keine Alternative. Die nächste wertet sich selbst und ihre Fähigkeiten als Mutter ab, und ich erkenne Ursula von der Leyen in ihren Worten wieder: „Meine Kleine lernt so viel in der Krippe, das alles könnte ich ihr gar nicht beibringen!„
Dann gibt es natürlich immer noch diejenigen, die sich mit dem ganzen System einfach arrangieren, ohne zu behaupten es sei gut so: „Jahrelang daheim bleiben – klar wäre das schön. Aber das geht halt nun einmal nicht. Und das Kind muss halt in die Kita. Es muss da durch, wohl oder übel.“
Und immer und immer wieder höre ich vor allem Mütter mit etwas älteren Kindern voller Überzeugung verteidigen, dass sie Teilzeit oder auch nur auf Minijobbasis arbeiten – alles andere, sagen sie, kommt nicht infrage. Ich will doch für meine Kinder da sein. Nur sehr wenige Frauen habe ich kennengelernt, die wie selbstverständlich nach der Geburt ihres Kindes schnell wieder Vollzeit arbeiten wollen. Wenn, dann haben es meist die Akamerikerinnen eilig – ich hab ja nicht umsonst studiert!. Den anderen gehts, wenn sie schnell wieder arbeiten wollen, dann eher darum, schnell wieder schwanger zu werden und möglichst viel Elterngeld zu bekommen. Viel öfter erkenne ich das Bedürfnis danach, weniger finanziellem und/oder gesellschaftlichem Druck ausgesetzt zu sein, so schnell wie möglich und am besten auch so viel wie möglich wieder zu arbeiten.
Was die Väter angeht, ja, da ist die Vollzeitarbeit noch immer weitgehend eine Selbstverständlichkeit. Aus all meinem großen Bekanntenkreis kenne ich nur drei Männer, die ihre Arbeitszeit zugunsten des Babys dauerhaft reduziert haben oder gleich ganz daheim bleiben. Das finde ich schade, und ich glaube, auch Nathalie Klüver findet das schade. Aber besonders deutlich wird sie dabei nicht. Wie bereits an anderer Stelle erwähnt, habe ich den Eindruck, ihr ginge es in erster Linie darum, dass Mütter mehr arbeiten. Ob die Väter dann im Gegenzug weniger arbeiten oder nicht, scheint nicht so wichtig zu sein, denn es sollen ja in ihrer Vorstellung nicht unbedingt die Väter während der Arbeitszeit der Mütter für das Kind da sein, sondern in erster Linie die Einrichtung.
Familienbedürfnisse versus politische Forderungen – als Beispiel das bis 14:30 Uhr betreute Klein- oder Kindergartenkind
Ich möchte anhand eines Beispiels aufzeigen, wie familienpolitische Forderungen an den Bedürfnissen von Familien vorbeigehen, und wie Nathalie Klüver dies meiner Meinung nach mit ihrem Buch leider fördert. Natürlich kommt dieses Beispiel, so wie die meisten meiner Eindrücke, aus meinem privaten Umfeld, und ein einzelnes Beispiel repräsentiert natürlich niemals ein ganzes Land. Aber vielleicht kann es dennoch aufzeigen, was ich meine. Und vielleicht fühlt ja auch jemand ähnlich und möchte sich zu meinem Beispiel äußern.
14:30 Uhr ist eine Uhrzeit, zu welcher nach meiner Erfahrung typischerweise viele Kleinkinder aus der Krippe geholt werden und viele Kindergartenkinder aus dem Kindergarten. Erst vor einigen Tagen (Juni 2023) hatte ich ein Gespräch mit einer jungen, Teilzeit arbeitenden Mutter. Sie sagte zu mir:
„Weißt du – sie sind von 8:00 bis 14:30 Uhr in der Krippe und im Kindergarten. Die Einrichtungen sind richtig gut, aber trotzdem tut mir das irgendwie leid für die Kinder. Das ist ja länger als ein ganzer Schultag! Aber was soll ich machen – ich kann sie nicht früher abholen!“
Ich hab versucht, ihr gut zuzureden. Ja, die Allerkleinsten hätten leider oft die längsten Tage, das fände ich auch schade, aber es sei ja immerhin noch viel übrig vom Nachmittag, den sie dann zusammen verbringen. Was hätte Nathalie Klüver dieser Mutter wohl gesagt? Wahrscheinlich, dass sie sich freimachen muss von ihrem schlechten Gewissen, denn anders als mithilfe der Betreuungseinrichtungen könne sie ihren Beruf ja nicht mit ihrer Mutterschaft vereinbaren, und das sei ja schließlich unser großes gemeinsames Ziel als Gesellschaft.
Im Februar fand im Bundestag ein Treffen zum Thema „Drohender Kollaps des Systems Kita“ statt. Ich habe mir die gesamte Bundestagsdebatte angetan, auch wenn es schwer erträglich war. Mehr Betreuung, bitte noch mehr Betreuung, und längere Betreuung, und Mütter müssen arbeiten dürfen, am besten den ganzen Tag, so lassen sich die Reden aller Politiker mit wenigen Stichworten zusammenfassen. (Außer Beatrix von Storch. Das Resümee ihrer Rede war natürlich: Ausländer raus!)
Und dann hat da dieser Lockenkopf von der SPD gesprochen, Erik von Malottki, und er war empört: „Die Öffnungszeiten der meisten städtischen Kitas wurden aus Fachkräftemangel so angepasst, dass die Kita bereits um 14:30 Uhr schließt! Wie sollen Eltern da ihren Vollzeitjob schaffen??“
Ja, da haben wir also die Mutter, die ihr Kleinkind und ihr Kindergartenkind um 14:30 Uhr abholt und dabei schon ein schlechtes Gefühl hat, weil ihr Herz sagt, dass die Kinder eigentlich schon zu lang in Betreuung sind und sie sie lieber länger bei sich hätte. Und den Volksvertreter, der beklagt, dass 14:30 viel zu früh ist und Eltern doch die Chance haben müssen, Vollzeit zu arbeiten und ihre Kinder viel länger in Kitas zu lassen. Hat er – der ansonsten in seiner Rede viel davon faselt, wie sehr der Fachkräftemangel in der Kita der deutschen Wirtschaft schadet („5 Millionen Frauen nehmen nicht am Erwerbsleben teil!“) – auch nur einen Funken Interesse für die echten, menschlichen Bedürfnisse einer Mutter, eines Vaters und eines Kindes? Ich weiß nicht, wie er selbst mit seiner Frau und seinem Kind sein Familienleben gestaltet, aber ich kann mir bei solchen Reden ein echtes, aufrichtiges, nicht ökonomisch gedachtes Interesse für Familienbedürfnisse einfach nicht vorstellen.
Ich werde bei so etwas ehrlich gesagt richtig wütend. Überspitzt könnte man sich fragen, wozu man denn überhaupt noch Familienpolitik braucht, wenn eh jeder immer nur an die Wirtschaft denkt. Dann integrieren wir doch das Familienministerium gleich ins Wirtschaftsministerium und hören auf zu heucheln, dass hier irgendwer das Wohl der Familien im Sinn hat. (Hier kann man sich die Bundestagsdebatte übrigens in voller Länger anschauen, allerdings kommentiert von Andreas Ebenhöh von den Kitahelden. Ohne ihn kann ich persönlich das nicht ertragen).
Für mich ist es schade, dass Nathalie Klüver ein Buch geschrieben hat, das suggeriert, dass die deutschen Eltern mehrheitlich auf der Seite der Politik stehen, dass ihnen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie genauso wichtig sind wie der Politik, dass jede Mutter es aus persönlichem Antrieb heraus anstrebt, nach der Geburt ihres Kindes möglichst schnell ihre „Phase der Nichterwerbstätigkeit“ zu überwinden (und wenn sie es nicht tut, muss man einen solchen Antrieb in ihr erzeugen), dass alle sich noch mehr Betreuung vom Baby bis zum Schulkind wünschen und gerne mehr Verantwortung für ihre Kinder abgeben würden, sogar über Nacht. Ich kann mich damit absolut nicht identifizieren, aber das ist eben nicht alles. Ich sehe das einfach auch in meinem privaten Umfeld nicht. Natürlich kenne ich die zum Teil heftigen Streitigkeiten in Social Media zwischen Hausfrauen und Vollzeit arbeitenden Karrieremüttern (und dazwischen die Frauen, die bedauern, dass sie keine andere Wahl haben, als arbeiten zu gehen). Ich weiß, wie gesagt, dass es Eltern gibt, die mit Überzeugung hinter dem Konzept Ganzstagsbetreuung stehen, und das nicht nur für sich, sondern auch für das Kind als die beste Lösung wahrnehmen. Aber ich sehe einfach keine Mehrheit, die offenen Herzens in Nathalie Klüvers Idealwelt stürmen würde.
Ich glaube, wo Vereinbarkeit das Hauptziel ist, wird die Kindheit niemals eine hohe Bedeutung erhalten
Kürzlich habe ich im Sporttraining einen Bekannten getroffen. Seine Tochter trainiert mit meinen Kindern und mir, und er ist zum Zuschauen gekommen.
„Als Melanie (Name natürlich ausgedacht) angefangen hat, hab ich mir überlegt, auch mit einzusteigen. Ich hätte echt Lust gehabt. Aber es geht nicht, ich habe keine Zeit dafür“, hat er zu mir gesagt.
Nathalie Klüver weiß selbst, dass Eltern und Kinder Zeit füreinander haben möchten. Sie hat ein kleines Kapitel darüber geschrieben, es heißt „Wie wollen wir leben?“ Es gehört zu den Stellen, die mir dann doch wieder aus der Seele gesprochen haben: „Eine Gesellschaft, in der Eltern durch ein Entzerren der ‚Rushhour des Lebens‘ mehr Zeit für Kinder und Familie haben, ist eine kinderfreundlichere Gesellschaft, denn dadurch wird der Zeit mit Kindern eine höhere Bedeutung beigemessen und somit auch dem Kind an sich. Eine Gesellschaft, in der anerkannt wird, dass es mehr als nur Arbeit und Produktivitätssteigerung gibt, ist auch eine Gesellschaft, in der der Kindheit wieder mehr Bedeutung beigemessen wird. Das gibt Eltern die Möglichkeit, diese Kindheit ungehinderter zu begleiten – ohne Druck, ohne sich zerrissen zu fühlen.“ (S. 79)
Das heißt dann wohl, dass Nathalie Klüver doch nicht so ganz auf einer Wellenlänge ist mit der Politik und der Wirtschaft? Erik von Malottki ist, wenn ich mir seine erwähnte Rede nochmal anhöre, ganz sicher nicht dafür, der Produktivitätssteigerung eine geringere Bedeutung beizumessen und dem Kind im Leben der Eltern eine größere, schließlich sollen sie Vollzeit arbeiten und die Wirtschaft ankurbeln.
Ich verstehe es nicht: Wie kann es sein, dass solche Aussagen direkt auch aus meinen Mund kommen könnten, zu 100 %, aber dann wieder nur die Rede von Ganztagsbetreuung, Doppelvollzeit arbeitenden Eltern, Förderung und dem Arbeitsmarkt ist, der auf gut gebildete Frauen nicht verzichten kann, nicht ein mal ein paar Jahre. Als schlügen zwei Herzen in Nathalie Klüvers Brust: Das der Mutter, die ihre Kinder liebt und Zeit für sie haben will. Und das der strikten Feministin, die verinnerlicht hat, dass es irgendwie unfeministisch ist, sich um Kinder zu kümmern und die Erwerbstätigkeit hinten anzustellen.
Das sind wir: Ich behaupte nicht, dass wir die typische deutsche Familie repräsentieren. Aber ich behaupte, dass Nathalie Klüver es auch nicht tut.
Natürlich ist auch meine Familie nicht repräsentativ für die typische Familie in Deutschland, das will ich auch gar nicht behaupten. Erstens ist mein Mann einen für Männer ungewöhnlichen Schritt gegangen, er ist Hausmann. Er hat damit sehr viel möglich gemacht, unter anderem, dass unsere Kinder komplett zuhause bleiben konnten bis sie vier Jahre alt waren. Ich habe als Freiberuflerin niemals wirklich mit der Arbeit aufgehört, ich habe nur zwei Wochen lang keine Aufträge angenommen und habe in der Musikschule eine dreimonatige Pause eingelegt.
Ich hatte mir eine doppelte Freiberuflichkeit, in zwei verschiedenen Branchen, über die Jahre aufgebaut und konnte das einfach nicht alles wieder hinwerfen, denn es ist klar, dass ich nach einer längeren Kinderpause hätte komplett von vorne anfangen müssen, wenn es denn überhaupt noch einmal geklappt hätte. Meine Freiberuflichkeit ist nicht nur ein „Job“, ich mache etwas, womit ich mich stark identifizieren kann. Ich kann also gerne berufstätige Mütter, die nicht oder so wenig wie möglich pausieren wollen, durchaus verstehen.
Gleichzeitig konnte ich es auch nicht übers Herz bringen, weg zu sein oder im häuslichen Arbeitszimmer zu sitzen, während etwas so unendlich Faszinierendes vor sich geht wie das Heranwachsen eines Kindes, oder in meinem Fall zweier Kinder. Ich wollte dabei sein, zuschauen, ihre schier grenzenlosen Bedürfnisse nach Nähe, Kuscheln, Aufmerksamkeit, gemeinsam verbrachter Zeit erfüllen und ihnen die Welt zeigen, schließlich bin ich ihre Mutter und für mich waren sie, wie Danielle Graf und Katja Seide so schön zu sagen pflegen, die „gewünschtesten Wunschkinder aller Zeiten“.
Deshalb bin ich einen anderen Weg gegangen, habe ziemlich viel Schlaf geopfert, um zumindest die PC-Arbeit in der Nacht erledigen zu können, wenn die Kinder schliefen. So musste ich zwar immer noch an drei Nachmittagen in der Woche weg, aber hatte trotzdem viel mehr Zeit mit den Kindern. Inzwischen erledige ich meine PC-Arbeit vor und während der Kindergartenzeit, manchmal aber auch nachmittags. Das Leben mit Sechsjährigen ist ja völlig anders als mit Babys oder Kleinkindern.
Nein, leicht waren die Kleinkindjahre nicht, aber ich war erst Mitte/Ende 20, da hält der Körper so etwas durch, vor allem wenn man sich in seiner Seele so sicher ist, das Richtige zu tun. Ich habe mal auf die Frage, wie ich das aushalte, geantwortet, dass ich aus der Arbeit Energie schöpfe für die Zeit mit den Kindern und andersherum, und hinter dieser Antwort stehe ich auch nach wie vor.
Trotzdem würde ich natürlich niemals meinen Weg als richtig für jemand anderen deklarieren und fordern, dass andere Freiberuflerinnen oder im Home Office Arbeitenden es genauso machen sollen. Ich sage nur: Manchmal kann es funktionieren, seinen ganz eigenen Weg zu gehen.
Aber ich sage auch etwas anderes ganz ehrlich: Hätte ich damals, vor den Kindern, nicht den Weg der Freiberuflichkeit gewählt, hätte ich irgendeinen „normalen“ Beruf mit typischer „9 to 5“-Festanstellung ausgesucht, dann wäre ich im Traum nicht darauf gekommen, so schnell wie möglich wieder zu arbeiten. Nur wenn mein Mann gesagt hätte, er möchte gerne auch ein bisschen mehr zuhause bei den Kindern sein, hätte ich einem Kompromiss á la „Doppelteilzeit“ oder so zugestimmt. Oder wenn ich halt zwingend gemusst hätte aufgrund des Geldes. Deshalb kann ich auch jede Frau verstehen, die sich in ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter wohl fühlt und die Vollzeitberufstätigkeit ihres Mannes nicht als Unterdrückung empfindet, sondern dankbar ist dafür, dass er ihr Zeit für die Kinder ermöglicht. Und ich glaube nicht, dass das so selten und für Frauen undenkbar ist, wie Nathalie Klüver es behauptet. In ihr Weltbild mag die Hausfrau nicht passen, aber ich glaube, es fühlen sich mehr Frauen wohl damit, vor allem während ihre Kinder sehr klein sind, als sie glaubt. Oder würden sich wohl damit fühlen, wenn sie so leben könnten.
Für uns, die Alleinverdienerfamilie, die wir sicherlich noch mehrere Jahre bleiben werden, kann ich zum Abschluss nur noch sagen: Wir wollen keine optimale Vereinbarkeit, wir wollen in erster Linie Zeit und Raum, um eine Familie zu sein.
Wer Nathalie Klüvers Buch lesen möchte, um sich einen eigenen Eindruck davon zu machen, erhält es im Buchhandel, in vielen Online Shops, zum Beispiel hier: Nathalie Klüver – Deutschland – ein kinderfeindliches Land?
Es kann auch gerne von mir geliehen werden, ich habe es gekauft und habe es meiner privaten Büchersammlung. Weitere Bücher, die ich zu diesem Thema empfehlen kann und in meiner Artikelsammlung genannt habe, fasse ich nun noch einmal zusammen. Auch diese Bücher können gerne von mir ausgeliehen werden. Ich freue mich über weitere Empfehlungen, die ich vielleicht noch nicht kenne :-).
Gunda Frey – Das verstaatlichte Kind
Rainer Stadler – Vater Mutter Staat
Georg Milzner – Die Renaturierung der Kindheit
Josef Kraus – Helikoptereltern (besitze ich nicht)
Nicola Schmidt – Artgerecht. Das andere Kleinkinderbuch
Nicola Schmidt – Artgerecht durch den Familienalltag
Beitragsbild: Private Fotosammlung