Familie sollte vom Staat gefördert werden, da sind Frau Klüver und ich uns einig. Sie sagt auch, dass wir starke Kinder brauchen. Genauso sehe ich das auch. Starke Kinder, die selbstbewusste Erwachsene werden, die für sich selbst einstehen können, aber auch nicht egoistisch sind, sondern jenen Gemeinschafts- und Gerechtigkeitssinn mitbringen, der notwendig ist, um unsere heutige Welt für alle besser zu machen.
Auf welche Weise die Förderung aber geschehen soll, und wie ein Kind stark wird, da stehen wir wohl weltanschaulich auf verschiedenen, beinahe gegenüberliegenden Seiten. Für Nathalie Klüver braucht die Familie einen starken Staat, der die Eltern von einem Teil ihrer Aufgaben und Lasten befreit. Dementsprechend nimmt der Staat einen Teil der Verantwortung für das Kind auf sich, während die Eltern einen Teil der Verantwortung an den Staat abgeben. An vielen Stellen ihres Buches beklagt Nathalie Klüver, Kinder zu bekommen sei in Deutschland eine reine Privatsache und fordert, dies müsse sich ändern. Sowohl durch mehr Kinderbetreuung, als auch durch finanzielle Entlastungen, zum Beispiel, indem Schulmaterialien steuerlich absetzbar werden.
Je staatlicher die Kindheit, umso gleicher und formbarer der Mensch – das ist keine Gesellschaft, in der ich leben möchte
Die steuerlichen Vorteile für Familien sind eine schöne Forderung, der ich mich anschließen kann. Aber durch noch mehr Betreuung, vor allem die von Frau Klüver vehement gelobte Ganztagsbetreuung, tritt die Familie im Leben des Kindes einen großen Schritt zurück, und der Staat stellt sich neben die Eltern und andere Familienmitglieder, wie zum Beispiel die Großeltern. Er beteiligt sich durch Kitapersonal an der Kindererziehung – umso mehr, je mehr Zeit das Kind dort verbringt. Er gibt Kleinkindern, was sie so dringend brauchen – Bezugspersonen, auf die sie sich verlassen können und die ihnen körperliche Nähe spenden (oder auch nicht – je nachdem, was der Betreuungsschlüssel zulässt). Und er prägt unter der Woche den Alltag von Schulkindern, wenn sie die Ganztagsschule besuchen.
Ganz automatisch kommt es so zu einer Angleichung der Kinder untereinander und individuelle Eigenschaften und Lebensabläufe werden weniger. Das ist ja eine vollkommen logische Folge, wenn nicht acht Kleinkinder von acht Müttern, Vätern, Omas oder Opas betreut werden, sondern von einer oder zwei Erzieherinnen. Und wenn nicht 30 Grundschulkinder alle einen ganz individuellen Nachmittag verbringen – der eine geht zur Oma, der andere trifft sich mit Freunden auf dem Spielplatz, die nächste ist eine Tagträumerin und hört in ihrem Zimmer Musik, die vierte geht zum Gitarrenunterricht, der fünfte greift seiner Mutter mit dem Baby unter die Arme, der sechste lebt in einer landwirtschaftlichen Familie und fährt mit seinem Vater raus aufs Feld – sondern alle in der Schule sind und sich höchstens in kleinere Gruppen aufteilen, um die Bildungsangebote der Schule wahrzunehmen.
All das ist mir zu sozialistisch und kollektivistisch, wobei sozialistische und kollektivistische Elemente in einer Gesellschaft natürlich begrüßenswert sind. Natürlich bin ich nicht gegen eine solidarische Gesellschaft mit Gemeinschaftssinn, in welcher jeder auch der Allgemeinheit gegenüber verpflichtet ist, und ganz besonders mit dem Grundgedanken des Sozialismus kann ich mich stark identifizieren: Dass Menschen nicht über andere Menschen herrschen. Man muss aber meiner Meinung nach immer aufpassen, dass sich das Allgemeine nie über das Persönliche stellt, und das kann leicht passieren, wenn man einen starken Staat fordert.
Ich hab überhaupt keine guten Assoziationen, wenn ich daran denke, dass der Staat die Erziehung und Förderung von Kindern in seine Hand nimmt und die Eltern von ihren Erziehungspflichten entbindet, sodass das Großziehen von Kindern eine Art gemeinschaftliche Aufgabe der gesamten Gesellschaft wird. Das mag bei Naturvölkern, die in kleinen Gruppen zusammenleben, gut funktionieren, weil hier jeder jeden kennt, die Bindungen zueinander deshalb intensiv sind, und es keinen Staat gibt. Aber bei größeren Gesellschaften, vor allem, wenn ein Staat involviert ist, kann ich mich nicht erinnern, dass es bei Modellen, die in diese Richtung gingen, jemals darum ging, die Menschen glücklich zu machen; stattdessen ging es bislang immer darum, den Menschen zu einem angepassten und wenig emotional gebundenen Arbeiter oder gar Kämpfer zu formen.
Man denke nur mal an die DDR oder die gesamte Sowjetunion. Und natürlich hat die DDR niemals mit ehrlichen Worten für ihre Familienpolitik geworben, keiner hat gesagt: „Gebt uns eure Kinder, wir lassen sie in Wochen- und Tageskrippen zu emotional verstümmelten und dem Regime angepassten Arbeitern heranwachsen! Ihr habt kein Recht auf Familie, ihr habt arbeiten zu gehen für die Partei und ihre Planwirtschaft!“
Man hat natürlich mit schönen Worten geworben: Professionelles Fachpersonal, damit die Kinder bestmöglich gefördert werden können. Die Befreiung der Frau, ihre Chance, ihr eigenes Gehalt zu verdienen und sich selbst zu verwirklichen, sich nicht mehr vom Mann und der Familie einschränken zu lassen. Es jagt mir einen kalten Schauer über den Rücken, all diese schönen Worte jetzt wieder zu hören und zu lesen, zum Beispiel eben in Nathalie Klüvers Buch.
Die Skandinavischen Länder machen mir auch eher Angst als dass ich neidisch auf die dortige Familienpolitik bin. Das flächendeckende Kitanetz soll sehr teuer sein und von der Bevölkerung durch hohe Steuern finanziert werden, sodass eine Wahlfreiheit, wie du als Familie leben möchtest, kaum besteht. Du hast zu arbeiten und die Kinder abzugeben und fertig. In ihrer Angepasstheit scheinen die meisten Menschen es verinnerlicht zu haben, dass das gut so ist und dass ihre Aufgabe nicht die Kindererziehung, sondern ihr Beruf ist. Einige Aussagen von Skandinaviern, die die Soziologin Katherine Newman in einer qualitativen Studie gesammelt hat, bereiten mir Gänsehaut („Es gibt einfach so viel zu tun, wir haben weder die Zeit noch die Kraft, um uns auch noch um die Familie zu kümmern.“ oder „Im Vergleich zu anderen Kulturen sind wir Dänen ein Haufen Kreaturen ohne Wurzeln“.) Mehr zu diesem Thema liest man in dem Buch „Vater Mutter Staat“ von Rainer Stadler oder in meinem Artikel „Die familienzerstörende Familienpolitik“, der dieses Buch als Vorlage hat.
Bei dem Gedanken an ein derart familienarmes und fremdbestimmtes Leben schnürt es mich ehrlich gesagt geradezu die Kehle zu.
Oder – noch schlimmer – man erzieht die Kinder zu unerschrockenen Kämpfern, man denke nur an die Hitlerjugend oder die sogenannten Madrasas (Koranschulen), welche in der Islamischen Welt Jungen aus armen Familien nehmen, ihnen ein Dach über dem Kopf, kostenloses Essen und ebenso kostenlose Indoktrination bieten und sie am Ende zu Taliban-Kämpfern erziehen. Eine Maßnahme gegen Kinderarmut? Sicherlich. Daran sieht man wohl, dass man etwas gegen Kinderarmut tun kann, ohne das Kindeswohl im Sinn zu haben. Man lässt die Eltern in Armut und nimmt einfach die Kinder und macht mit ihren Köpfen, was man will. In ihrer Not geben die Eltern ihre Söhne natürlich ab, was sollen sie sonst machen. Niemand darf den zutiefst armen Menschen das vorwerfen.
Wo ganztägige Förderung und Vereinbarkeit von Beruf und Familie im Vordergrund stehen, tritt das persönliche Wohl des Kindes in den Hintergrund
Nathalie Klüver wird sich nun schockiert fragen, wie ich denken kann, sie wolle so etwas. Ihr geht es doch nur darum, Kinder mehr zu fördern und Eltern mehr zu entlasten, nicht die Familien voneinander zu trennen, Kinder zu indoktrinieren oder sie zu gefügigen Arbeitern oder Kämpfern zu machen. Das glaube ich ihr.
Aber ihre Schwerpunkte – Mehr Kleinkindbetreuung, mehr Ganztagsschule, mehr Doppelvollzeit, Kinderarmut bekämpfen ohne Elternarmut zu bekämpfen, ja die Eltern sogar in die Pflicht nehmen, ihre Kinder selbst durch Arbeit und wenn der Lohn nicht passt eben durch noch mehr Arbeit aus der Armut zu holen, mehr Bildung und Förderung, mehr hohe Schulabschlüsse – lassen bei mir einfach keine guten Gedanken zu. Es steht mir zu sehr für Anpassung der Familie und des Menschen an die Logik des Kapitalismus. Hier wird der Mensch natürlich nicht zum Kämpfer, aber durchaus zum willigen Arbeiter und natürlich zum fleißigen Konsumenten materieller Dinge.
Auch Gunda Frey hat in ihrem Buch „Das verstaatlichte Kind“ gefordert, dass Kinder ins Zentrum der Gesellschaft rücken müssen und wir als Allgemeinheit unser Leben darauf ausrichten müssen, dass es Kindern gut geht. Ihr Buch hat mein Herz berührt und gute Gedanken in mir geweckt, da hab ich kein einziges Mal an totalitäre Systeme denken müssen oder den Begriff „Humankapital“ im Kopf gehabt.
Vielleicht weil ihre Vorstellungen von einem starken Kind sich eher mit meinen decken: Ein starkes Kind ist sicher gebunden, empfindet Lebensglück und genießt seine Kindheit, weil es sich wohl fühlt. Bei Nathalie Klüver ist ein starkes Kind eher gut gebildet, hat später gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt und hat vor allem eine berufstätige Mutter, egal wie alt es ist.
Und hier ist sie mir zu sehr auf einer Wellenlänge mit der Politik, die die Bedürfnisse der Wirtschaft meiner Meinung nach meilenweit über die Bedürfnisse der Kinder stellt. Die berufstätige Mutter ist hier wohl das Paradebeispiel dafür: Sie bringt der Wirtschaft eindeutig Vorteile, das dürfte klar sein. Aber welche Vorteile bringt sie dem Kind? Mir fallen keine ein, abgesehen von einem höheren Familieneinkommen. Und trotzdem steht sie im Zentrum aller familienpolitischen Maßnahmen der letzten Jahrzehnte und man wird nicht müde zu betonen, genau das – betreut sein, während die Eltern arbeiten – sei das Beste, was einem Kind passieren kann. Ich kann nicht verstehen, dass Frau Klüver in diesen manipulativen und wirtschaftspolitischen, zutiefst kapitalistisch orientierten Chor mit einstimmt.
Warum im Leben eines Kindes meiner Meinung nach Familie und Privates im Zentrum stehen sollten
Mir gefallen Absatz 1 und 2 des Artikels 6 unseres Grundgesetzes sehr gut:
- (1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.
- (2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.
Unser Grundgesetz finde ich klasse. Seine Verfasser haben sich wirklich Gedanken gemacht und haben vieles verstanden – nicht zuletzt vielleicht auch deswegen, weil man gerade gesehen hat, zu welch furchtbarer Katastrophe es führen kann, wenn man versucht, dem Menschen als Individuum seinen Wert abzusprechen, wie es die Nationalsozialisten getan haben – „Du bist nichts, dein Volk ist alles.“
Zu einem starken Kind, einem Menschen, der sich selbst als Individuum als wertvoll erachtet, gehören doch Menschen, mit welchen er den Großteil seines Lebens teilt, die ihn lieben, so wie er ist und ihn nicht anpassen oder ständig „fördern“ wollen, sondern einfach nur bei ihm sein. Und in deren Anwesenheit er ganz er selbst sein kann. Die seine Wurzeln sind, die ihm Halt und Orientierung im Leben geben. Ein solcher Mensch hat gute Chancen, ein starkes Selbstwertgefühl zu entwickeln, das ihm ermöglicht, für sich selbst einzustehen, später seine eigenen Kinder liebevoll großzuziehen und den Blick dafür zu schärfen, was gerecht und was ungerecht ist.
Manchmal stelle ich mir vor, wie sich ein rundum betreutes Kind dann als junger Erwachsener fühlt. Nehmen wir das Extrembeispiel, Ganztagsbetreuung vom Babyalter an bis zur weiterführenden Schule und natürlich Ferienbetreuung.
Seine ersten Schritte hat er mit seiner Erzieherin gemacht und auch seine ersten Worte zu ihr gesprochen. Seine Freunde hat er fast nur im Kindergarten oder später in der Schule gesehen, danach war Abendessens- und Schlafenszeit. Haben ihn Kinder in der Schule geärgert, hat er das mit dem Vertrauenslehrer besprochen. Gabs eine schlechte Note oder einfach einen schlechten Tag, konnte er nicht mittags bei Omas Pfannkuchen alles einfach mal hinter sich lassen, sondern hat schnell das Kantinenessen gegessen und musste dann weiter funktionieren.
All die Menschen, mit denen er den Alltag seiner Kindheit verbracht hat, sind nicht mehr da, sobald er aus der Schule raus ist. Die Erzieherin, die ihn als Krippenkind getragen, getröstet, gewickelt und mit ihm gespielt hat, hat ihn damals sicherlich sehr gemocht, aber würde ihn nun auf der Straße nicht mehr wiedererkennen. Die Kindergartenerzieherin, die immer so liebevoll vorgelesen hat, ist längst aus seinem Leben verschwunden, es sei denn, er lebt in einem kleinen Ort, wo man ihr immer wieder beim Einkaufen begegnet, doch das tun wohl die wenigsten. Wenn er seinen Lieblingslehrer trifft, zu dem er damals die engste Bindung hatte, sieht er, wie es in seinem Kopf rattert und er nachdenken muss, wie denn dieser Schüler gleich wieder hieß. Er hat natürlich längst neue Bindungen zu neuen Schülern aufgebaut. In der Schule hat er mit viel Freude Gitarrenunterricht genommen und ist im Laufe der Jahre richtig gut geworden, doch damit musste er aufhören, denn der Lehrer arbeitet in der Schule und unterrichtet nun andere Ganztagsschüler. Seine Freunde wechselten immer dann, wenn er die Institution wechselte, denn um Freundschaften zu Kindern aus dem Kindergarten oder der Grundschule zu pflegen, die von ihren Eltern in anderen Einrichtungen angemeldet worden sind, ließ die Ganztagsschule keinen Raum. Und jetzt, da man nicht mehr den Tag in der Schule zusammen verbringt, gehen auch die Freunde der vergangenen Jahre irgendwie alle ihren Weg und machen sich bereit für neue Weggefährten für den neuen Lebensabschnitt, so wie man es eben schon das ganzes bisherige Leben gewohnt war.
Diejenigen, die immer noch da sind, sind seine Eltern, seine Geschwister, seine Großeltern und ähnliche Familienmitglieder, doch an ihnen ist der Großteil seines Alltags irgendwie vorübergegangen, die Eltern waren die meiste Zeit mit ihren anspruchsvollen Berufen beschäftigt und wussten ihr Kind „gut betreut“, die Geschwister waren in ihrer eigenen Betreuung und für die Großeltern war im strammen Alltag eben kaum mehr Zeit als ein kurzer Besuch alle paar Monate. Und zum Glück muss sich auch niemand um sie kümmern, denn auch sie sind von Profis „gut betreut“ im Seniorenheim.
Ich glaube, egal wie gebildet man ist und was für einen hohen Schulabschluss man erreicht hat, man fühlt sich da entwurzelt und von sich selbst entfremdet und hat das Gefühl, dass es niemanden gibt, dem man wirklich wichtig ist. Vielleicht ist mein Beispiel etwas überspitzt, aber worauf ich hinaus will: Viele Menschen, ich erinnere nochmal an das Interview der Heldentaten-Akademie mit der Sozialwissenschaftlerin Heike Liebsch (vgl. Kapitel 4 und Kapitel 5), werden ein solches Gefühl mit starker Leistungsbereitschaft kompensieren, einen guten Beruf lernen und in der Arbeit alles geben. Unser vollumfänglich betreutes und intensiv gefördertes Kind wird also oberflächlich ein starker Mensch, leistungsfähig, unabhängig und mit beiden Beinen im Leben. Im Inneren ist dieser Mensch aber schwach und unsicher und genau das, was ein kapitalistisch geprägter Staat braucht: Ungebundenes, belastbares, flexibles, anpassungsfähiges Humankapital.
Natürlich müssen Kinder auch lernen, dass sie Teil einer großen Gesellschaft sind
Der Staat, die Gesellschaft und der Einzelne als Individuum sind natürlich nicht zu trennen, schließlich sind wir Staatsbürger und müssen zu Millionen zusammenleben und uns an dieselben Regeln halten. Deshalb sage ich auch gar nichts gegen den Grundgesetz-Satz „Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“ Und natürlich muss man sich als Individuum auch in die Gesellschaft einfügen und lernen, dass man nicht alles immer machen kann, wie man will. Deshalb sage ich überhaupt nichts gegen die Schulpflicht, die allen Kindern gewisse Kompetenzen und Informationen vermittelt, die wir als Gesellschaft alle können bzw. wissen müssen. Und ich finde, dass es eine gute Idee ist, dass Kinder ab einem gewissen Alter, in dem sie bereits gut sprechen können und die Fähigkeiten haben, tatsächlich mit ungefähr Gleichaltrigen zu spielen, einige Stunden am Tag außerhalb des Elternhauses verbringen.
Das Konzept Kindergarten finde ich – solange nicht ganztägig – klasse. Hier lernen Kinder nicht nur Vielfalt (Es gibt Menschen, die sind total anders als ich und meine Familie), sondern auch, dass außerhalb der Familie etwas andere Regeln gelten, an die man sich halten muss. Und natürlich lernen sie zwischenmenschliche Interaktion: Freundschaften schließen, streiten, für sich selbst einstehen, Kompromisse machen, andere respektvoll behandeln, Fehler machen, sich entschuldigen. All das geht mit Außenstehenden natürlich etwas anders als mit der eigenen Familie. Und sie machen schöne Dinge, die sie mit ihren Eltern nicht machen können. Ich zum Beispiel bin eine miserable Bastlerin und bastle sehr hässlich. Ich bin froh, dass meine Kinder mit ihren Erzieherinnen schöne Sachen basteln konnten.
Meine Kinder waren jetzt zwei Jahre lang im Kindergarten, sie wechseln nun in die Schule. Die Zeit war klasse. Ich hab höchsten Respekt vor den Erzieherinnen dort und bin ihnen dankbar dafür, dass sie sich an der Bildung und Lebensgestaltung meiner Kinder zwei Jahre lang beteiligt haben und sie viele schöne Momente mit ihnen erleben durften. Aber ab vier Jahren und bis 13:30 Uhr, das war für uns genug. Ab drei wäre auch ok gewesen. Ich hatte sie angemeldet, aber mich nicht besonders um einen Kindergartenplatz bemüht. Dass die Kinder gut sprechen können und mit uns über die Herausforderungen des Kindergartens reden können, war mir dabei besonders wichtig. So konnten wir besprechen, weshalb ein Kind auch mal gemein ist, obwohl man eigentlich befreundet ist, weshalb nicht immer jeder mit jedem spielen kann, oder weshalb eine Erzieherin, die auf viele Kinder gleichzeitig aufpassen muss, etwas strenger sein muss als die Mama zuhause, und dass das trotzdem nicht böse gemeint ist. Nur wenn man über diese Irritationen miteinander sprechen und sie dem Kind begreiflich machen kann, profitiert ein Kind meiner Meinung nach von einer Fremdbetreuung und lernt daraus etwas Positives über das Zusammenleben als Gesellschaft.
So stelle ich mir staatliche Unterstützung für Familien vor
Als Staatsbürgerin zahle ich Steuern. Das Steuerprinzip leuchtet mir prinzipiell ein und würde der Staat das Geld mehr in die eigene Bevölkerung investieren, zum Beispiel in einen Umbau des Schulsystems, in die Reparatur des maroden Gesundheitssystems oder in ein menschenfreundliches und überzeugendes Konzept zur Verlagerung der individuellen Mobilität hin zu mehr Bahn, Bus und Fahrrad und weniger Auto, würde ich nicht wie jetzt eher widerwillig, sondern von Herzen gerne meine Steuern zahlen. Auch gehe ich einer Erwerbstätigkeit nach, genauer gesagt sogar zweien, die meinen Mitbürgern einen gewissen Mehrwert bieten, und habe auch das eine oder andere Ehrenamt inne. Das ist mein persönlicher Beitrag zur Allgemeinheit und ich finde, dass jeder einen gewissen Beitrag zur Allgemeinheit leisten sollte.
Als Gegenleistung erwarte ich vom Staat, dass er meine Familie schützt, ganz besonders vor der Wirtschaft, welche natürlich ganz andere Interessen hat als das persönliche Wohlbefinden eines Kindes, nämlich in erster Linie Gewinnmaximierung. Ich will, dass der Staat mich und meine Familie vor Menschen schützt, die in uns nur „Humankapital“ sehen, und es füllt mich mit Furcht und auch mit Wut, wenn es ausgerechnet die Ideen solcher Menschen sind, die Einzug in die Familienpolitik halten, und plötzlich wird Familienpolitik darauf reduziert, den Eltern zu helfen, die „Phasen der Nichterwerbstätigkeit zu überwinden“, wie es in einem Bericht des Familienministeriums aus dem Jahr 2009 hieß.
Ich sehe die Aufgaben des Staats im Zusammenhang mit der Kindheit ganz woanders als Nathalie Klüver: Er soll die Familie als Kernelement unserer Gesellschaft beschützen, soll das stabile Fundament bilden, auf welchem wir als Familien stehen und unser Leben gestalten können, und dazu gehört es auch, die Rolle der Eltern zu stärken und ihnen die Zeit zu geben, ihre Kinder in Ruhe und frei von wirtschaftlichen Zwängen großzuziehen. Welches Modell eine Familie wählt, soll ihr dann bitte selbst überlassen sein. Ob nun der Mann oder die Frau Alleinverdiener ist oder beide Teilzeit arbeiten oder es ein ganz anderes, vielleicht ganz außergewöhnliches Konzept ist, welches ich jetzt gar nicht auf dem Schirm habe – Hauptsache, die Kinder haben genug Zeit und Raum, um sich in familiärem Umfeld zu entfalten. Mir ist wirklich auch egal, ob eine Familie eine Patchworkfamilie ist, eine Regenbogenfamilie oder was es auch sonst für neue Wörter gibt. Hauptsache, die erwachsenen Mitglieder dieser Familie haben genug Zeit und Kraft, sich den Kindern zu widmen und ihrer Kindheit einen angenehmen Rahmen zu geben.
Ganz besonderen Schutz benötigt meiner Meinung nach die frühe Kindheit, weil die Bedürfnisse eines Kleinkinds ganz besonders intensiv sind und die Bindung an zuverlässige Bezugspersonen viel wichtiger ist als frühkindliche Bildung. Deshalb beträgt die Dauer der Standard-Elternzeit in meiner idealen, kinderfreundlichen Gesellschaft drei Jahre. Wir könnten uns das leisten, unsere Eliten wollen nur nicht. (Faktisch bin ich aktuell froh und schätze es wert, dass wir wenigstens eine Elternzeit von standardmäßig einem Jahr haben. Ich weiß, dass sehr viele Länder das nicht haben!)
Allen Eltern, die das möchten, sollte das ermöglicht werden – finanziell und ohne in der Gesellschaft an Ansehen zu verlieren. Gerade finanziell gut aufgestellte Menschen kehren ja oft nicht aus finanziellen Gründen früher an den Arbeitsplatz zurück als ihr Herz das gerne würde, sondern weil der Arbeitgeber oder das Umfeld das erwarten.
Eltern, die es nicht wollen, denen der Beruf zu viel bedeutet, um längere Zeit fernzubleiben, oder die in ihrem schnelllebigen Beruf möglichst wenig verpassen wollen, sollten natürlich nicht zu einer langen Elternzeit gezwungen werden, eine gewisse Anzahl an Plätzen in der Kleinkindbetreuung ist auf jeden Fall notwendig. Aber ich bin überzeugt davon, dass der echte Bedarf daran drastisch zurückgehen würde, wenn Eltern nur tatsächlich eine aufrichtige Chance bekämen, ihre Kleinkinder ohne Nachteile zuhause zu behalten.
Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist meiner Meinung nach kein gutes familienpolitisches Hauptziel. Es ist zu eng verwoben mit der Wirtschaft und hat das Kind und seine Bedürfnisse sowie sein Wohlbefinden zu wenig im Blick. Es mag mal als gut gemeintes, feministisches Projekt begonnen haben, aber ich habe das Gefühl, dass es längst gekapert ist von denjenigen, die Arbeitskräfte brauchen und keine Rücksicht darauf nehmen, dass es Kinder gibt, die großgezogen werden müssen. Wir brauchen wieder andere familienpolitische Ziele – solche, die sich nicht an der Wirtschaft orientieren und das Wohl des Arbeitsmarktes im Blick haben (dafür gibt es eigene Ministerien: Das Wirtschaftsministerium, das Arbeitsministerium), sondern an den menschlichen Bedürfnissen von Kindern, Müttern und Vätern.
Es wird immer Kinder geben, die mit ihrer Familie Pech haben. Die bei Eltern landen, die aufgrund von psychischen Krankheiten oder aus anderen Gründen ihrer Verantwortung als Eltern nicht gerecht werden (können). Würde man sich dieses Problems ernsthaft annehmen, könnte man mit professioneller Familienhilfe, vielleicht begleitend mit therapeutischen Sitzungen, womöglich vielen solcher Menschen dabei helfen können, in ihre Rolle hineinzuwachsen. Aber da das nicht wirklich ernsthaft angegangen wird, muss der Staat für diese Kinder da sein. Er muss sie auffangen und ihnen ein schönes Zuhause geben und am besten dafür sorgen, dass sie bei liebevollen Pflegeeltern einziehen können. Ansonsten bin ich im Gegensatz zu Frau Klüver total dafür, dass der Staat sich aus der Kindheit weitgehend raus hält. Ich finde es sehr gut, dass Kindererziehung Privatsache ist – aber sie sollte halt staatlich geschützt und gefördert sein.
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