Die meiner Meinung nach schlimmste Forderung, die Nathalie Klüver im Zusammenhang mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie stellt, ist, die Kinderarmut zu bekämpfen, indem man noch mehr Kinderbetreuungsplätze schafft und so mehr armen Müttern das Arbeiten ermöglicht.
Ein meines Empfindens nach ganz gefährlicher Satz, den Nathalie Klüver auf Seite 182 da aufgeschrieben hat: „Je mehr eine Mutter arbeiten kann, umso höher liegt das Haushaltseinkommen und umso größer ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Familie nicht mehr auf Transferleistungen angewiesen ist.“
Eine Mutter, vor allem eine mit noch recht kleinen Kindern (und ich spreche nicht von Säuglingen), in den Arbeitsmarkt zu zwingen mit dem Argument, sie müsse ja dafür sorgen, dass ihre Kinder aus der Armut herauskommen, ist für mich das absolute Gegenteil zum Sozialstaat, es ist eine total neoliberale Idee (im modernen, nicht ursprünglichen Verständnis von Neoliberalismus), die der Ausbeutung Tür und Tor öffnet. In einem Buch von Christian Lindner hätte ich eine solche Forderung sofort verortet, aber nicht in einem Buch von einer Frau, die sich ihrem Selbstverständnis nach für eine kinderfreundliche Welt einsetzt und zudem feministisch ist.
Es gab mal eine Zeit, da wurde Kindererziehung staatlich wertgeschätzt und unterstützt
Besagte Forderung wertet die Care-Arbeit ab, die Mutter bekommt das Signal: Dass du dich um deine Kinder kümmerst, hat für die Gesellschaft keinen Wert. Das kriegt auch eine Kinderkrippe hin. Du hast malochen zu gehen, damit deine Kinder nicht mehr arm sind. Wenn man es zugespitzt ausdrückt, wird die Mutter zur Sklavin des Arbeitsmarkts und das Kind die Geisel.
Nathalie Klüver fordert immer wieder mehr Verantwortung vom Staat für die Kinder, er soll sie fördern und betreuen und den Eltern wo immer es geht Aufgaben abnehmen. Aber den Kampf gegen die Kinderarmut, den legt sie in die Hände schlecht verdienender Menschen, denn die Besserverdienenden sind bei diesem Thema natürlich außen vor. Es gab mal eine Zeit, da wurde die Kindererziehung als gesellschaftlich wertvolle Aufgabe gefördert. Da konnte ein alleinerziehendes Elternteil mit seinen Kindern mehrere Jahre zuhause bleiben und sie großziehen, und der Staat hat dafür gesorgt, dass die Familie trotzdem nicht arm ist. Das war Familienpolitik, die die Familie vor der Wirtschaft schützt und die Care-Arbeit wertschätzt.
Fiktives Beispiel: Die Pflegerin muss arbeiten gehen, damit ihr Kind nicht mehr arm ist
Spielen wir Nathalie Klüvers Forderung doch mal an einem Beispiel durch. Eine alleinerziehende Frau hat ein Baby bekommen. Zuvor hat sie in der ambulanten Pflege gearbeitet – wie man vielleicht weiß, ein harter Beruf, der körperlich und emotional kräftezehrend sein kann. Ich kenne eine Frau, die eine chronische Erschöpfung von diesem Beruf davongetragen hat – und sie hatte damals keine kleinen Kinder mehr, um die sie sich zusätzlich kümmern musste – und hat jetzt noch, Jahre später, gesundheitliche Probleme deswegen.
Naja, zurück zum Beispiel. Unsere Pflegerin geht emotional darin auf, sich um ihr Kind zu kümmern, aber das Elterngeld ist knapp und zum ersten Geburtstag des Kindes hat die Familie ziemlich wenig Geld. Nun hat in meinem fiktiven Beispiel die Politik die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gefördert und gleichzeitig der Kinderarmut den Kampf angesagt und hat die Regelung eingeführt, dass eine Mutter, deren Kind unter einer gewissen Armutsgrenze lebt, dazu verpflichtet ist, arbeiten zu gehen, damit das Kind in einer gesicherten finanziellen Situation aufwächst. Ein Betreuungsplatz wird ihr dafür garantiert.
Die junge Mutter muss also viel früher wieder in die ambulante Pflege, als ihr lieb gewesen wäre, und da man in ihrem Beruf nicht viel verdient und das Leben in ihrer Stadt gerade mit Kind teuer ist, reicht eine Teilzeitstelle nicht aus. Sie muss ihr Kind also Vollzeit betreuen lassen. Da es Nachtzuschläge gibt, darf sie ruhig auch gerne Nachtschichten machen – die Politik hat zum Glück dafür gesorgt, dass genügend Plätze in der 24-Stunden-Kita bereit stehen, so wie von Frau Klüver in ihrem Buch gewünscht.
Die ehemals glückliche Mutter findet sich also wieder in einem Hamsterrad aus harter Arbeit und einem extrem bedürftigen Kleinkind, das gerade nach der langen Betreuung ihre ganze Liebe und Zuwendung braucht, aber dafür ist die erschöpfte Mutter gar nicht mehr in der Lage – vor allem nicht nach einer Nachtschicht. Da sie auch irgendwann schlafen muss, bleibt das Kind meist nicht nur die Nacht über in der Kita, sondern auch den ganzen folgenden Tag. So kommt es, dass sich Mutter und Kleinkind auch mal tagelang kaum sehen, wir sind hier auf jeden Fall nicht mehr weit weg von der bereits erwähnten Wochenkrippe (vgl. Teil 4: Frühkindliche Betreuung: Probleme verschwinden nicht, wenn man sie ignoriert) – aber immerhin ist die Existenz gesichert!
Gleichzeitig kann die Frau für ihre Patienten nicht so da sein, wie es die kranken und alten Menschen bräuchten, weil sie zwischen den anstrengenden Arbeitszeiten keine Zeit hat, sich zu erholen – schließlich hat sie ein Kleinkind, um das sie sich kümmert, wenn sie nicht gerade schläft oder arbeitet, und sie leidet psychisch stark unter der langen Trennung von ihrem Kind.
Ein toller Kampf gegen Kinderarmut, nicht wahr? Das einzige, was uns dann noch von einem Land ohne Sozialstaat unterscheidet, wo viele Eltern Tag für Tag teils mehreren schlecht bezahlten Jobs nachgehen müssen, um das Überleben ihrer Kinder zu sichern, wäre, dass ein Betreuungsplatz vorhanden ist und nach wie vor niemand verhungert, der kein Geld hat.
Nathalie Klüver wird sicherlich sagen, dass sie das so nicht meint und beabsichtigt, und das glaube ich ihr auch. Aber dieser Ansatz – man nimmt die Mutter in die Pflicht, mit Erwerbsarbeit die Armut ihrer Kinder zu bekämpfen, je mehr sie arbeitet, umso weniger arm ist ihr Kind – würde sehr wahrscheinlich zu genau solchen Lebensläufen führen, so lange unsere Gesellschaft so ist, wie sie heute ist, mit Millionen von Menschen in schlecht bezahlten Arbeitsverhältnissen. In den hohen Etagen der Wirtschaft würde man das sicherlich schnell ausnutzen und einen auf familienfreundlich machen, weil man jungen Frauen die Chance gibt, ihre Kinder aus der Armut zu holen.
Bitte keine Selbstbetreuung als Privileg der Bessergestellten: Jede Mutter, die sich selbst um ihre Kinder kümmern möchte, sollte das Recht und die Möglichkeit dazu haben
Ich kannte mal eine Frau, die hat mich sehr inspiriert. Sie hatte zwei Kinder und war als Hausfrau mit ihnen zuhause. Die Kinder waren im Grundschul- und im Kindergartenalter. Mutter zu sein und so viel Zeit wie nur möglich mit ihren Kindern zu verbringen, war immer ihr größter Wunsch gewesen – und das, obwohl sie sehr gut ausgebildet war und vor ihrer Mutterschaft einem angenehmen Beruf nachgegangen ist.
Sie lebte mit ihrem Mann in einer gleichberechtigten Beziehung, denn er war am Karrieremachen und wollte auch nicht kürzer treten. So hatte jeder, was ihn glücklich machte. Ich hatte damals selbst noch keine Kinder, und meine eigene spätere Mutterschaft ist bis heute von den inneren Einstellungen dieser Frau stark beeinflusst. Ich habe selten jemanden gesehen, der so positiv gegenüber Kindern eingestellt und darauf bedacht war, die Bedürfnisse von Kindern zu erfüllen, und mitnichten waren sie verwöhnt oder überbehütet oder sowas. Sie hatten aber ein hohes Maß an Selbstwertgefühl, und zugleich waren sie sehr freundlich und sozial.
Sie wuchsen in einer Umgebung der grenzenlosen Liebe auf, niemand schob sie hin und her oder sah sie als Last oder Verpflichtung, stattdessen hatten sie das Gefühl, das größte Geschenk zu sein, das das Leben ihrer Mutter hatte schenken können. Das hat sie auch so zu mir gesagt, in Anwesenheit der Kinder.
Die Kinder hatten einen wunderbar stressfreien Alltag: Wenn die Kleine mal einen schlechten Tag hatte, musste sie nicht in den Kindergarten und durfte einfach zuhause bleiben. Die Große war gut in der Schule, weil ihre Mama immer Zeit hatte, ihr etwas zu erklären, wenn sie ihre Hausaufgaben nicht verstanden hat, und die fertigen Aufgaben auf Fehler durchzuschauen. Es war immer Zeit für einen kleinen Stadtbummel, und wenn die Ferien anstanden, hat die Mutter nicht schnell nach einer Ferienbetreuung für die Große gesucht und die Kleine in die Notbetreuung gesteckt, sondern sich für die Kinder gefreut, dass sie ausschlafen dürfen. Ich persönlich fand es schade, dass der Vater und die Kinder sich so wenig gesehen haben, aber es war der Weg, den die Familie gewählt hatte, und sie waren glücklich.
Nicht jede Frau, die Mutter wird, fühlt so wie diese Frau, das ist klar. Aber in meiner kinderfreundlichen Welt hat jede Mutter, die solche intensiven Muttergefühle und so viel Lust darauf hat, sich selbst um ihre Kinder zu kümmern, die Chance dazu – nicht nur privilegierte Frauen, deren finanzielle Situation gesichert ist, wie das bei meiner Bekannten der Fall war. Auch Frauen, die alleinerziehend sind oder Ehemänner haben, die nicht Karriere in der Automobilindustrie machen, sollten ein solches Leben mit ihren Kindern führen können, mindestens ein paar Jahre lang. Auch gegen Altersarmut im Fall einer Trennung müsste man solche Mütter absichern, denn das Argument kenne ich gut: „Wie naiv! Irgendwann trennt sich der Mann, und dann rutscht sie in die Altersarmut!“ Das typische Argument der Karrierefrauen gegen Hausfrauen, das in keinem Social Media Streit fehlt, wenn es um Themen wie Kinderbetreuung oder Vereinbarkeit geht.
In einer Welt, wo Mütter dazu verpflichtet sind zu arbeiten, damit ihre Kinder nicht arm sind, wird die Selbstbetreuung zu einem seltenen Privileg einer kleinen, reichen Schicht – und das ist für mich zutiefst familienfeindlich. Und dasselbe kann man selbstverständlich umdrehen und genauso für Väter formulieren.
Gegen Kinderarmut müssen wir andere Lösungen finden
Kinderarmut muss man bekämpfen, ohne die Eltern der Wirtschaft zum Fraß vorzuwerfen. Indem man zum Beispiel durch eine sozial gerechte Lohnpolitik nicht zulässt, dass es überhaupt Geringverdiener gibt. Was soll das überhaupt, dass wir diesen Begriff so selbstverständlich benutzen? Jeder Mensch, der arbeitet, sollte mit seiner Arbeit sich selbst und mindestens eine kleine Familie (also einen Partner und ein oder zwei Kinder) ernähren können, alles andere ist eigentlich inakzeptabel und es ist überfällig, dass wir als Gesellschaft uns dagegen wehren. Alleinerziehende, die keinen Partner haben, der dafür sorgt, dass die Familie finanziell gut auskommt, dürften ruhig mehrere Jahre vom Staat für die Erziehung ihrer Kinder bezahlt werden. Oder wir gehen ganz neue Wege und führen das bedingungslose Grundeinkommen ein.
Aber den Müttern ihre Kinder wegzunehmen und sie selbst zur Arbeit zu zwingen, umso mehr, je geringer ihr Lohn ist – das darf kein Weg sein.
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