Nathalie Klüver legt sehr viel Wert darauf, dass Kinder gut gebildet sind. Chancengleichheit heißt für sie in erster Linie, dass alle Kinder die Chance haben müssen auf einen hohen Schulabschluss, ein Studium und einen akademischen und dementsprechend gut bezahlten Beruf. Chancengleichheit ist für sie auch der Schlüssel zur Überwindung der Kinderarmut.
Und natürlich finde auch ich, dass ein Kind, dessen Eltern einfachen Berufen nachgehen, genauso die Chance haben sollte, sein Abitur zu machen und studieren zu gehen, wie ein Kind von Eltern, die Akademiker sind. So weit, so gut. Auch ihre Ausführungen zum Thema Homeschooling während der Corona-Lockdowns kann ich nachvollziehen – gerade Kinder aus ärmeren Haushalten hatten es schwer mit dem Homeschooling, logisch. Wer keinen Laptop und/oder kein eigenes Zimmer hat, kann auch nicht richtig mitmachen beim Schulunterrichtt von zuhause aus. Die Frage danach, wie man es zulassen konnte, dass ein Teil der Kinder einfach abgehängt worden ist, finde ich berechtigt.
Mich stört eher Frau Klüvers Fokus auf hohe Schulabschlüsse und darauf, dass man Kinder fördern und bilden muss, um sie aus der Armut ihrer Familie zu holen. Mir fehlt da der Blick auf die gesamte Familie. Ich sehe ein paar Probleme, wenn man beim Thema Chancengleichheit nur darauf schaut, dass alle Kinder die Chance haben auf hohe Bildung und dann auch noch die Kinderarmut auf diese Weise bekämpfen möchte.
Auch einfache Berufe sollten gut bezahlt sein
Schauen wir uns das Beispiel an, von dem Nathalie Klüver auf S. 173 erzählt: Ein neunjähriger Junge kann nicht mit auf Klassenfahrt, weil seine Mutter, die als Floristin arbeitet, am Ende des Monats nicht mehr genug Geld hat, um die Klassenfahrt zu bezahlen.
Nach Nathalie Klüver wäre ja nun die Lösung, wenn ich ihr Kapitel „Schritte auf dem Weg zu mehr Chancengleichheit und weniger Kinderarmut“ richtig verstehe, den Jungen zu fördern, damit er einen hohen Schulabschluss macht und einen Beruf erlernt, bei welchem er mehr verdient als seine Mutter als Floristin. Damit durchbricht er die Armutsspirale und steigt auf, tritt hinein in die Welt der Besserverdienenden.
Warum fehlt hier gänzlich der Gedanke daran, dass eine Floristin unbedingt genug Geld verdienen sollte, um ihrem Kind eine unbeschwerte Kindheit zu bieten? Was ist, wenn der Junge von seiner Mutter die Liebe zu Blumen geerbt hat und selbst gerne Florist werden möchte, soll er dann weiterhin arm bleiben müssen? Oder soll er sich gegen den Beruf entscheiden, mit dem er sich wohlfühlen würde, um Abitur zu machen und zu studieren?
Wir brauchen meiner Meinung nach unbedingt ein erweitertes Verständnis von Chancengleichheit. Man kann nicht alle Menschen zu hochgebildeten Akademikern machen, Menschen haben unterschiedliche Talente, Interessen und auch die Intelligenz unterscheidet sich. Es ist nun einmal nicht jeder geeignet für das Gymnasium und für ein Studium, viele Menschen wären damit überfordert. Und das ist auch vollkommen in Ordnung so, denn unsere Gesellschaft braucht nicht den von Josef Kraus etwas ironisch beschrieben Standardmenschen, der dabei herauskommt, wenn man ein Kind mit Förderung vollpumpt: „junger Mann, 23 Jahre alt, mit Masterabschluss, mindestens vier Jahren Auslandserfahrung, vier Sprachen fließend sprechend.“ (Josef Kraus: „Helikoptereltern“, S. 36)
Oftmals sind gerade die Berufe, die keine hohe, intellektuelle Bildung erfordern, für die Gesellschaft sehr wichtig. Wir brauchen die Leute, die unseren Müll abholen, unsere Amazon-Päckchen packen und liefern, unsere Toten bestatten, morgens um drei aufstehen, um Brot zu backen, unsere Häuser bauen, unsere Klos reparieren, unsere Abwasserkanäle instand halten, unsere Schulen putzen, das Essen im Krankenhaus kochen und so weiter.
In einer sozialen und dankbaren Gesellschaft erkennen wir nicht nur die wichtige Bedeutung der Berufe an, die wir heute als minderwertig betrachten, und behandeln die Menschen, die sie ausüben, mit viel Respekt, sondern wir gönnen den Menschen dafür, dass sie bereit sind, die unangenehmen Dinge zu erledigen, auf die wir alle angewiesen sind, kürzere Arbeitszeiten und sehr gute Löhne, mit welchen sie ein angenehmes Leben frei von finanziellen Sorgen leben können. So bekämpfen wir auch gleichzeitig effektiv die Kinderarmut, weil dann auch eine Floristin genug Geld hat, dass ihr Sohn mit auf Klassenfahrt fahren kann.
Muss der Schulabschluss wirklich möglichst hoch sein?
Heranwachsende sollten nicht einfach nur so viel wie möglich gefördert werden, damit so viele wie möglich ihr Abi machen und die Armutsspirale ihrer Familie durchbrechen können. Sie sollten auch einfach ihren Hauptschul- oder Realschulabschluss machen und einfache Berufe ergreifen dürfen. Selbst wenn sie aus einer Akademikerfamilie kommen übrigens – es sollten doch auch Kinder von Ärzten die Chance haben, Sekretärin oder Schuhverkäufer zu werden, ohne dass sie in Armut fallen und gesellschaftlich absteigen. Gerade der Hauptschulabschluss wird in den letzten Jahrzehnten als minderwertig und als Tür und Tor zur Arbeitslosigkeit oder zum Dasein als Geringverdiener betrachtet, das finde ich falsch. Jugendliche, die dabei sind, einen Hauptschulabschluss zu machen, sehen wir gesellschaftlich irgendwie als hoffnungslose Fälle, als Absteiger. Es scheint, als müssten sich Eltern schämen, wenn ihr Kind ein Hauptschüler ist. Und selbst die Ausbilder einfacher Lehrberufe stellen lieber Realschulabsolventen ein, was ist denn das eigentlich für eine inakzeptable Entwicklung?
Alle Kinder und Jugendlichen brauchen eine sinnvolle Schulbildung, die ihnen gewisse Grundkompetenzen lehrt, ihnen bestimmtes Grundwissen vermittelt, sie aufs Leben vorbereitet, ihnen kritisches Denken beibringt und sie dazu befähigt, politische Zusammenhänge zu verstehen und sich an politischen und gesellschaftlichen Diskussionen und Entwicklungen im Land zu beteiligen. Aber überlassen wir doch Latein und Goethes Faust all denjenigen, die Freude daran haben. Es kann nicht jeder alles werden. Und es möchte sich auch gar nicht jeder in seinem Berufsleben selbst verwirklichen. Viele Menschen gehen nur arbeiten, um Geld zu verdienen, und finden ihr Glück vor allem im Privatleben, und das ist doch total okay. Echte Chancengleichheit und ein echter Kampf gegen Kinderarmut wäre in meinem Verständnis, dass niemand mehr am Rande der Gesellschaft schuften muss und doch nicht genug Geld bekommt, um ein angenehmes Leben zu leben beziehungsweise seinen Kindern eine geldsorgenfreie Kindheit zu ermöglichen.
Kleinkinder brauchen keine Förderung, sondern menschliche Nähe
Eine letzte Uneinigkeit zwischen Nathalie Klüver und mir zum Thema Förderung und Chancengleichheit: Bitte, lassen wir die Kleinkinder da raus. Nathalie Klüver fordert eine frühkindliche Förderung so früh wie möglich und präsentiert die Zahlen aus einer Studie namens „Early Catastrophe“: „Ein Kind aus einer höheren Schicht kennt mit drei Jahren 1000 Wörter, ein Kind aus einer niedrigeren Schicht nur die Hälfte.“ (S. 178)
Frau Klüvers Lösung für dieses „Problem“: Ab mit Kleinkindern in die Betreuung, damit sie frühkindliche Bildung abbekommen. So wie es auch der Wirtschaftsweise Bert Rürup und ähnliche Leute fordern, für die Kleinkinder nichts weiter sind als „Humankapital“ (vgl. Rainer Stadler, Vater Mutter Staat S. 24/25).
Kann es wirklich kinderfreundlich sein, die Leistungen von Kleinkindern miteinander zu vergleichen? Bitte, lassen wir das und all die „frühkindliche Förderung“ und erfüllen den Kleinen erst einmal ihre Grundbedürfnisse. Ich zitiere gerne wieder Nicola Schmidt im Interview mit der Kitahelden-Akademie:
„Kinder unter drei brauchen keine Förderung, sondern Körperkontakt, Zuwendung und prompte Reaktionen, sofortiges Versorgt-werden. Sie brauchen Wärme und menschliche Nähe. Sie brauchen Gerüche und Angefasst-werden.“
Gegen Erziehungskurse und Familienhebammen, die Eltern über das Wochenbett hinaus begleiten, um frisch gebackenen Eltern Anregungen zu geben dafür, was für Kinder wichtig ist, ist meiner Meinung nach gar nichts einzuwenden. Diese Idee von Frau Klüver finde ich gut. So gibt man denjenigen Menschen die Chance, bessere Eltern zu sein, die eventuell nicht wissen, welche Rolle gesunde Ernährung spielt oder dass es ihren Kleinkindern sehr gut tut, wenn man sich viel mit ihnen beschäftigt, mit ihnen spricht, ihnen vorliest und mit ihnen in die Natur geht. Aber mehr als dieses eigentlich in den meisten Fällen normale Elternverhalten kann doch ein Kleinkind nicht brauchen.
Es lohnt sich, in diesem Zusammenhang auch nochmal auf das Buch „Das verstaatlichte Kind“ von Gunda Frey hinzuweisen. Hier ist nachzulesen, dass viele Kinder unter den Bedingungen einer typischen deutschen Kinderkrippe zwei Grundsätze verinnerlichen:
- „Ich bin nicht wichtig“
- „Ich muss funktionieren“
Diese Grundsätze nehmen die Kinder später mit in die Schule und ins Berufsleben, und heraus kommen Menschen, die Leistung bringen und eben funktionieren, aber nicht für sich selbst einstehen. Auch Heike Liebsch erzählt in dem bereits im vorherigen Kapitel erwähnten Interview, dass viele Wochenkrippenkinder beruflich sehr erfolgreich geworden sind, eben weil sie dem ständigen Mangel menschlicher Nähe ausgesetzt waren und mit ihrer Leistung kompensieren möchten, dass sie sich als Mensch nicht wertvoll fühlen. Viele von ihnen brauchen psychologische Hilfe, sobald sie älter werden und ihre Leistungsfähigkeit im Beruf nachlässt. Aber erfolgreiche, aber innerlich nicht glückliche Menschen darf doch kein anstrebenswertes Ziel für unsere Gesellschaft sein.
Bei Kleinkindern sollte deshalb immer der Grundsatz gelten: „Bindung vor Bildung“.
Sehr wichtige Zusammenhänge, finde ich!
Armut als systemisches Problem kann nicht individuell gelöst werden, und jeder Ansatz, der darauf basiert, dass alle armen Menschen sich mit ein wenig Motivation oder Information von außen selbst aus der Armut erheben können, ist mindestens ignorant, wenn nicht vollkommen zynisch. Ein Leben ohne Existenzangst sollte keine Belohnung für besonders gute Leistungen sein, sondern die Basis für alle.