Neulich habe ich im BR einen Artikel gelesen, der mir einen eiskalten Schauer über den Rücken gejagt hat. Sein Titel: „Warten auf die OP: Kinderintensivstationen unter Druck“. Berichtet wird aus dem Deutschen Herzzentrum in München.
OPs können nicht stattfinden, weil es nicht genug Pflegekräfte gibt
Könnte das Herzzentrum theoretisch jede Woche 12 herzkranke Kinder operieren, sind praktisch zur Zeit nur 5 OPs pro Woche möglich, und zwar, weil es akut an Pflegepersonal auf der Intensivstation mangelt. Der Direktor der Klinik, Professor Ewert, sagt, man sei am Rande einer Triage und müsste nun schon überlegen, was man macht, wenn man zum Beispiel ein schwerkrankes Kind operieren muss, das lange auf der Intensivstation bleiben würde, oder aber auch drei Kinder operieren könnte, die auch schnell Hilfe brauchen, aber sich voraussichtlich rasch erholen werden. Wen operiert man?
Ist das nicht fürchterlich? Jetzt hat man den medizinischen Fortschritt so weit, dass man Kindern eine sorglose Kindheit und ein schönes Erwachsenenleben schenken kann, die noch vor wenigen Jahrzehnten zum Tode verurteilt waren, die einfach nach der Geburt gestorben sind. Nun stehen sie da, die hochentwickelten Geräte wie die ECMO-Maschinen, die Chirurgen haben gelernt, hochkomplexe Operationen an walnussgroßen, offenen Herzen durchzuführen und sind einsatzbereit, man hat Medikamente entwickelt, die die kleinen Körper dabei unterstützen, sich nach so einem schweren Eingriff wieder zu erholen. Aber es gibt zu wenige Menschen, die die Kinder in der ersten, schweren Zeit nach der OP auf den Intensivstation pflegen. So ein eigentlich simples Problem, und ich will nicht daran denken, wie viele Kinder, die man retten könnte, heute alleine deswegen sterben oder wegen Terminverschiebungen schwere, eigentlich vermeidbare Komplikationen erleiden.
Unsere persönliche Verbindung zum Deutschen Herzzentrum in München
Es hat einen ganz besonderen, persönlichen Grund, dass mich ausgerechnet die desolate Lage auf der Intensivstation im Deutschen Herzzentrum in München emotional so tief berührt, denn vor knapp sechs Jahren ist exakt dort das Leben meiner Tochter gerettet worden. Tag für Tag waren die Biene Maja und Willi, die im Artikelbild des BR-Beitrags zu sehen sind, die ersten, die mich dort begrüßt haben, als ich hineingegangen bin, um den hinter schweren Geräten und unzähligen Schläuchen versteckten, 2 Kilo leichten Säugling wenigstens ein bisschen am Köpfchen, am Bäuchlein, an den Ärmchen und Beinchen zu streicheln. Aus dem Bettchen nehmen war völlig undenkbar, der Brustkorb war zum Beispiel tagelang geöffnet.
Meine Tochter war eines dieser Kinder, das schwerkrank dorthin kam, zudem als Frühgeborenes eigentlich noch viel zu klein für die notwendige lebensrettende OP war und danach auch mehr als 2 Wochen auf der Intensivstation liegenbleiben musste. Ob es bei den zwei Wochen bleiben wird, war tagelang ungewiss.
Damals ging alles ganz schnell. Sie wurde per Krankenwagen aus unserem örtlichen Krankenhaus am frühen Morgen nach München gefahren, unter intensivmedizinischer Versorgung, weil ihr kleiner Körper nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt werden konnte. Hätte sie nicht noch am selben Tag operiert werden können, hätten wir sie damals verloren. Dann hätten wir niemals wirklich erfahren, was für ein Mensch sie ist, und ihre Zwillingsschwester wäre als Einzelkind aufgewachsen.
Was ist heute mit den Kindern, die in derselben Verfassung sind? Können sie noch sofort in den OP gefahren werden? Wie viele von ihnen sterben, weil nichts frei ist oder weil man es sich nicht leisten kann, das Intensivbett so lange zu belegen?
Was die Intensivpflegerinnen leisten, ist eigentlich unglaublich
Ich weiß, dass die Arbeitsbedingungen für die Pflegekräfte auch damals schon nicht gut waren. Wir haben sehr viel Zeit im Herzzentrum verbracht, insgesamt sicherlich 3 – 4 Monate verteilt auf drei OP-Termine. Was die Pflegekräfte auf den Intensivstationen leisten, ist nicht in Worte zu fassen. Es piepst ununterbrochen, bei irgendeinem Kind ist immer irgendetwas nicht in Ordnung, ist die Sauerstoffsättigung zu niedrig, der Herzschlag zu schnell, irgendwas. Wenn das Kind wach ist, weint es vielleicht und strampelt sich Zugänge weg oder reißt sich die Magensonde aus der Nase. Die Schwestern müssen ruhig bleiben, professionell auf alle Warnungen reagieren und dabei immer Prioritäten setzen, haben immer mehr als ein Kind zu versorgen und müssen derweil noch Zeit finden, den Kindern ein wenig Zuneigung zu schenken, ihnen gut zuzureden. Denn Eltern dürfen zwar immer mal wieder zu Besuch kommen, aber mehr auch nicht und in diesem Fall ist das auch verständlich, denn ich hatte oft das Gefühl, wir ängstlichen, hilflosen Mütter und Väter, die nicht mal das Mindeste für ihr Kind tun können, außer vielleicht Muttermilch abpumpen und bisschen vorsichtig streicheln, seien ohnehin nur im Weg auf der stressigen Intensivstation. Zumindest so lange, bis man das Kind auch mal für mehrere Stunden aus dem Bett nehmen und sich auf die Brust legen kann. Unter gewissen Umständen ist das, wenn genug Zeit nach der OP vergangen ist, manchmal möglich. Aber es dauert lange, auch dafür braucht die Intensivschwester Zeit, Konzentration und Vorsicht. Du kannst das verkabelte Kind nicht einfach selbst aus dem Bett nehmen.
Ich habe mich mit den Pflegerinnen sehr gut verstanden, fast alle schienen herzensgute Menschen zu sein, und das muss man auch, um sich so eine Arbeit anzutun. Aber so einen Job in Vollzeit, das ist eigentlich keinem Menschen zuzumuten. Eine Intensivpflegerin, mit der ich mich ausführlicher unterhalten habe und die ich besonders in Erinnerung habe, weil sie so lieb und empathisch war, hatte sehr reduzierte Teilzeit-Arbeitszeiten von wenigen Tagen in der Woche. „Mehr geht einfach nicht, ich habe ja auch noch selbst Kinder“, hat sie mir damals gesagt.
Und jetzt lese ich im BR-Artikel, wie die völlig realitätsferne Bayerische Staatsregierung die Kommunen darauf hinweist, es liege in ihrer Verantwortung, bezahlbaren Wohnraum und ausreichende Kinderbetreuung für Intensivpflegekräfte zu schaffen, als ob das irgendein Problem lösen könnte. Wie soll sich eine Intensivkrankenschwester, die den ganzen Tag auf der Intensivstation verbracht hat, danach noch um ihre eigenen Kinder kümmern in ihrem tollen bezahlbaren Wohnraum? Wie viel Energie hat sie dann noch und wann erholt sie sich von ihrem physisch und psychisch belastenden Knochenjob?
Kinderkrankenpfleger sind Lebensretter – wann behandeln wir sie endlich so?
Intensivpflegekräfte sind Lebensretter. Sie ermöglichen todkranken Kindern, neben den Chirurgen und Fachärzten natürlich, eine zweite Chance auf ein häufig weitgehend gesundes, langes Leben. Warum behandeln wir sie nicht mit dem nötigen Respekt, vergüten ihre immens wichtigen Leistungen nicht so gut, dass sie außerhalb ihrer Arbeit ein sorgenloses Leben führen und sich mit ihnen eigenen Lieben so erholen können, dass sie ausgeruht und konzentriert ihre volle Aufmerksamkeit in der Arbeit dem schwerkranken Kind widmen können? Und zwar auch dann, wenn sie nur wenige Tage in der Woche oder wenige Stunden am Tag auf der Intensivstation verbringen? Sie haben es wirklich verdient, und ohne sie können wir den medizinischen Fortschritt, den wir in den letzten Jahrzehnten erlangt haben, auf den alle immer zurecht so stolz sind, ja ganz offensichtlich nicht aufrechterhalten.
Und ganz genauso oder zumindest sehr ähnlich sollte man übrigens natürlich auch die Pflegerinnen (Pfleger sind die absolute Ausnahme) auf den Normalstationen behandeln. Auch sie leisten Immenses. In Zeiten wie diesen versorgen auch sie aufgrund der Lage auf der Intensivstation (Platzprobleme auf der Intensivstation haben wir auch schon mitbekommen. Nur scheint das alles jetzt noch viel dramatischer zu sein) schwer kranke Kinder, die eigentlich noch auf die Intensivstation gehören würden, aber ihren Platz für noch kränkere Kinder räumen mussten. Sie haben viel zu viele kleine Patienten in ihrer Verantwortung und rennen ständig von Bett zu Bett. Wenn sie Spätschicht und danach Frühschicht haben, sieht man sie um 22 Uhr erschöpft nach Hause gehen und um 7 Uhr morgens wieder durch die Gänge rasen. Sie machen Konzentrationsfehler, was vollkommen menschlich ist. Aber für ein krankes Kind eben auch lebensgefährlich sein kann. Meine Tochter hat nach ihrer dritten Operation, als sie eigentlich schon auf dem Weg der Besserung war, versehentlich die Menge an Blutverdünner, die dafür vorgesehen war, innerhalb von 36 Stunden langsam in ihren Körper zu fließen, in 3 Stunden „reingepumpt“ bekommen. Jemand hat sich da am Gerät verdrückt. Infolgedessen hatte sie einen großen Bluterguss am Herzen, einen gefährlich niedrigen Puls und musste nochmals auf die Intensivstation verlegt und operiert werden.
Wir hatten Glück, aber mein Herz blutet für andere Eltern
Heute, im Jahr 2022, ist meine Tochter ein Vorschulkind und fühlt sich weitgehend gesund, auch wenn sie mit nur einem halben Herzen lebt. Sie kann nicht so schnell und ausdauernd rennen, wie die anderen Kinder, aber das wars auch schon an körperlichen Einschränkungen. Ihr Kinderkardiologe rechnet mit gesundheitlichen Problemen ab einem Alter von 30 – 40 Jahren.
Eine große Narbe auf der Brust und dass sie so schnell die Nerven verliert und extrem anhänglich ist, erinnert uns an die Zeit im Herzzentrum. Diese vielen Wochen ohne körperliche Nähe haben sicherlich etwas mit ihrer Seele gemacht. Aber das war die einzige Möglichkeit, ihr Leben zu retten und ich bin noch heute und für immer jeden einzelnen Tag den Chirurgen und Ärzten beiden Geschlechts und den Pflegerinnen im Deutschen Herzzentrum dankbar, die unter damals schon widrigen Umständen alles für mein Kind getan haben.
Die Zeit wirkt irgendwie weit weg. Aber irgendwie ist sie doch noch nah. Das merke ich daran, dass ich Gänsehaut bekomme, wenn ich die Räumlichkeiten der Intensivstation und das Gesicht von Klinikdirektor Prof. Ewert auf den Fotos im BR-Artikel sehe und mir die Tränen kommen, wenn ich lese, sie seien dort am Rande einer Triage. Wenn mir ganz schlecht wird, daran zu denken, dass andere Mütter und Väter ihr Kind, dessen Krankheit behandelbar wäre, vielleicht verlieren müssen, nur, weil wir politisch und gesellschaftlich beschlossen haben, dass das Problem „Pflegenotstand“ ja gar nicht schlimm ist und die Augen vor der Realität in den Krankenhäusern verschließen.
Das Beitragsbild stammt aus unserer privaten Fotosammlung und zeigt unsere Tochter im Februar 2017 auf der Intensivstation.